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Zwischen Religionskrieg und Fakultätskonflikt.
Professoren an der „Reform-Universität“ Erfurt – im 17. Jahrhundert[1]

Hans Medick (Göttingen)

[gleichzeitig erschienen in: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit. Hg von Alf Lüdtke und Reiner Prass. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 47-64.]

In den Diskussionen und Zukunftsplanungen, die der Wiedergründung der Universität Erfurt (1996) und ihrer Neueröffnung im Jahr 1999 vorausgingen[2], wie auch in den Jahren seither blieb außer Betracht, dass die Erfurter „Reformuniversität“ des späten 20. Jahrhunderts eine Vorgeschichte hat. Diese reicht in die Kriegs- und Krisenzeiten des 17. Jahrhunderts zurück. Auch das vielbändige Opus des im Jahr 2005 im Alter von 100 Jahren verstorbenen katholischen Theologen und Historikers Erich Kleineidam[3] behandelt diese kurze Reformphase nur äußerst knapp und bringt sie mit dem Argument der mangelnden Geschichtswirksamkeit nicht umsichtig zur Darstellung.[4] Durchaus zu Recht als historisches Grundlagenwerk angesehen, wird diese Geschichte der Universität Erfurt aber vielleicht doch etwas zu schnell universitätsoffiziell für die Identitäts- und Traditionsstiftung der „jungen Reformuniversität“ in Anspruch genommen.[5] Jedenfalls weist sie in ihren entsprechenden Abschnitten[6] eine eher einseitige Tendenz auf. Inhaltliche Perspektiven und Ziele der Reform bleiben unerörtert[7]. Betont wird vielmehr die Kontinuität der katholischen gegenreformatorischen Bestrebungen an der Universität Erfurt. Diese setzten bereits vor der Reform der Jahre 1633-35 ein und fanden nach der erneuten Unterwerfung der Stadt Erfurt unter die Oberherrschaft der Erzbischöfe von Mainz mit dem Frieden von Münster und Osnabrück im Jahr 1648 ihre Fortsetzung. Doch das Reformexperiment, das inmitten des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) stattfand, verdient eine eigenständige Würdigung, zeigt es doch einen Versuch der Realisierung hochfliegender Pläne in krisenhaften Zeiten, aber auch die Schwierigkeiten bei der Realisierung dieser Pläne. Diese scheiterten nicht nur an den widrigen Kriegsumständen der Zeit und vor allem an den knappen Ressourcen, sondern auch an den kleinen Kriegen des akademischen Alltags und der Machtaspirationen seiner gelehrten Protagonisten.

Mitten im Dreißigjährigen Krieg, sehr bald nach der schwedischen Besetzung Erfurts im September des Jahres 1631 und dem Abschluss eines Schutzbündnisses zwischen König Gustav Adolf und dem Rat der Stadt[8], gab es die ersten Anstöße zur Neu­­begründung der bereits seit 1412 existierenden Universität. Sie verfolgten eine weit gespannte Reformabsicht. Geplant war eine für ihre Zeit außerordentlich moderne protestantische Musteruniversität. In ihr sollten sich Gelehrsamkeit, Disziplin bei Lehrenden wie Studierenden und religiöses Engagement unter Führung einer neuen lutherisch-theologischen Fakultät verbinden.[9] Die Ausgangslage für die Neugründung war trotz der Ausnahmesituation des Krieges, in der sie stattfand, in mehrfacher Weise günstig. Zunächst war sie dies aus einem gewissermaßen negativen Grund: Die alte Uni­versität Erfurt, die vor allem im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert eine intellek­tuelle Blüte erreicht hatte, hatte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen Nie­dergang erlebt. In den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krie­ges war sie aus Mangel an Studierenden, aber auch wegen der Nichtbesetzung vieler Professuren vor allem in der theologischen Fakultät, trotz zaghafter Wiederbelebungsversuche praktisch zum Erliegen gekommen. Doch entscheidend war der neue positive Gründungsimpetus. Er ging vom schwedischen König Gustav Adolf aus. Sehr bald nach seiner Ankunft in Erfurt am 22. September 1631 regte er die „Restauration“ der alten Universität an. Sie sollte unter schwedischer Oberherrschaft und unter ihm selbst oder seinem Stellvertreter als Kanzler, aber in der praktischen Regie des protestantischen Erfurter Rats neu entstehen.[10] Auch für die finanzielle Grundlage versprach der schwedische König mit einem politischen Schachzug zu sorgen. In einer Schenkung an die Stadt sicherte er sämtliche Einkünfte aus den Liegenschaften und Gerechtsamen des Erzbistums Mainz in und um Erfurt, die er qua Kriegsrecht enteignete, der Stadt selbst zu – unter der Voraussetzung, dass sie diese Mittel für die Verbesserung des Schulwesens, vor allem aber für die „Restauration“ der Universität verwendete.[11]

Angesichts solch finanziell gesichert erscheinender Gründungsaussichten blieb nicht aus, dass sich auch ein entsprechender Gründungselan entfaltete. In den zwei Jahren zwischen 1633 und 1635, in denen die Reformuniversität Erfurt unter schwedischem Dominat und unter tatkräftiger Mithilfe des Rats der Stadt auf den Weg kam, mangelte es jedenfalls nicht an einem Reform-Optimismus, der geradezu eschatologisch-millenarische Züge annahm. Dies zeigt sich in einer um das Jahr 1634 niedergeschriebenen Äußerung eines der ersten neu nach Erfurt berufenen Professoren, des Professor Primarius der neuen theologischen Fakultät Johann Matthäus Meyfart (1590-1642):

„Ich danke … von Grund meines Herzens Christo Jesu“, so schrieb Meyfart unter Verwendung der sonst von ihm in diesem Zusammenhang eher selten gebrauchten Ich- Form in seinem um 1634 niedergeschriebenen und 1636 veröffentlichten Werk zur Universitätsreform „Christliche… Erinnerung von [der] Erbauung und Fortsetzung der Academischen Disziplin auf den Evangelischen Hohen Schulen in Teutschland“[12],

„ dass er diese uralte Universität[Erfurt]… gnädiglich aus dem Verderben errettet, und mit Adlers Federn aufs Neue beschenket hat. Vordessen hat das Academische Regiment in majestätischer Glorie…geleuchtet und ist… ein solches Licht der Universität gewesen, dass diejenigen, welche von den Dingen geschrieben, die Erfurttische Academie für das Paradeiß des Teutschlandes ausgerufen. Daß dergestalt nicht zu verwundern, wo die edelsten Gemüter gen Erfurt gezogen, als in den vorigen hundert Jahren sehr viele getan. Ich hoffe, Christus hat [jetzt wieder] den Anfang gemacht und wird ferner helfen. Er wird Israelitischer Universität zu Erfurt sein wie ein Tau, dass sie soll blühen wie eine Rose, und ihre Wurzeln sollen ausschlagen wie Libanon, und ihre Zweige sich ausbreiten, dass sie sei so schön als ein Oelbaum und soll so guten Ruch geben wie Libanon und sollen wieder unter ihren Schatten sitzen, von Korn sollen sie sich nähren, und blühen wie ein Weinstock, ihr Gedächtnis soll sein wie der Wein dem Libanon. Ich hoffe festiglich, Christus Jesus wird helfen und kräftiglich verhüten, dass bei der friedsamen und treuen Mutter und Meisterin in Israel die Teufelische Barbarei und Barbarische Teufelei [sich] nimmer mehr einschleiche.“[13]

Meyfart schrieb in einer Situation, die ihm selbst, aber auch manchem seiner Kollegen [14] als liminal vorkam. Er sah sich und seine Universität in einer weltgeschichtlichen, vor allem aber heilsgeschichtlichen Umbruchsituation[15], in der offen war, ob weiterhin akademische „Barbarei“ oder nicht vielmehr „christliche Disziplin“ vorherrschen sollte. Meyfart verband mit seiner Reformhoffnung nicht nur den Gedanken an die Reformation von Lehre und Wissenschaft, sondern vor allem auch den einer Reformation des Lebens. Ihr habe die Wissenschaft zu dienen:

„Ein erbares Leben hat grosse Glorie auch ohne Wissenschaft, aber die Wissenschaft hat keine Gnade ohne das erbare Leben“.[16]

Doch bei der „Wiederaufrichtung“ der „darniederliegenden“ Erfurter Universität verblieb es nicht nur bei Reformhoffnungen und spektakulären Feiern wie dem „Wiederauferstehungsfest“ am 10. September 1632. Mit diesem Fest feierte die Universität ihre Neugründung aus protestantischem Geist an einem besonderen Ort, dem Dom „unserer lieben Frau“. Dieser bis dahin ausschließlich dem katholischen Gottesdienst vorbehaltene sakrale Raum war bereits wenige Tage zuvor (am 7.9.) mit einem protestantischen Festgottesdienst zur Erinnerung an den ein Jahr zuvor errungenen Sieg Gustav Adolfs bei Breitenfeld konfessionell umgewidmet worden[17]. Von jetzt ab, dies war die Botschaft des Inaugurationsfests im „hohen“ Dom, sollten seine Räumlichkeiten auch den Zwecken der neuen Universität dienen. Doch es ging auch um eine institutionelle Neugründung. Sehr bald machten sich die schwedischen „Stifter“ in Zusammenarbeit mit dem Rat der Stadt und den binnen Jahresfrist eintreffenden neu berufenen Professoren sowie den nicht wenigen protestantischen Amtsinhabern der alten Universität, die auf ihren Posten verblieben waren, daran, ein neues institutio­nelles Gerüst zu etablieren und dies in der Praxis des universitären Alltags wirksam werden zu lassen.

Die in den ersten Monaten des Jahres 1633 erarbeiteten provisorischen Statuten ermöglichten zunächst die Arbeitsfähigkeit der neuen Universität. Sie nahmen wesentliche Bestimmungen vorweg, die sich auch in der endgültigen Satzung, der so genannten „Formula Concordiae“ vom 5. März 1634[18] und den Allgemeinen Universitätsstatuten („Statuta Academiae Erfurtensis Generalia“) vom 14. August 1634[19], fanden. Vor allem schrieben sie frühzeitig den rein protestantisch-lutherischen Charakter der Universität auf der Grundlage der Confessio Augustana[20] von 1530 fest. Auf der Basis der provisorischen Statuten wurden im Laufe des Jahres 1633 zunächst vier Professoren in die neue „Leuchtturmfakultät“ für lutherische Theologie berufen, darunter Meyfart als Professor Primarius[21]. Meyfart wurde nicht nur das höchste Gehalt eines Erfurter Professors überhaupt versprochen, 400 fl. im Jahr, die er freilich nie vollständig ausgezahlt erhielt, sowie eine (kostenlose) „Dienstwohnung“ im leerstehenden Haus eines geflüchteten katholischen Klerikers am Domberg. Als Professor Primarius war er auch von vornherein als Gründungsdekan der neuen theologischen Fakultät ausersehen.

Doch um sein hohes Amt anzutreten und es mit Würden ausüben zu können, bedurfte es der Amtsinsignien des Dekans. Diese, vor allem aber die beiden Zepter und das Amtssiegel, befanden sich im Frühjahr 1633 – zusammen mit anderen „Pertinentien“ der Fakultät, wie etwa den alten Statuten und einer Sammlung silberner Becher, – noch in einer Kiste unter der Obhut des Dekans der alten katholischen Fakultät, des Domherren und Professors Caspar Heinrich Marx (1600-1635)[22]. Dieser war erst am 30. September 1631, zwei Tage vor dem Einmarsch des schwedischen Heeres und drei Tage vor der triumphalen Ankunft König Gustav Adolfs in der Stadt am 2. Oktober in einer Eilaktion der alten theologischen Fakultät als Nachfolger des bisherigen Dekans und gleichzeitigen Rektors des Jesuitenkollegs, Johannes Bettigen, in sein Amt gewählt worden.[23] Vorausschauend versuchte der Rat der Stadt bereits vor dem Eintreffen der neu ernannten Professoren in Erfurt, diese Insignien für Amt und Würden des zukünftigen Dekans sicherzustellen. Er erließ deshalb bereits im Mai 1633 eine Anordnung, um Marx zur Herausgabe der Fakultätskiste zu zwingen.

Doch augenscheinlich waren die Amtssymbole, das heißt Zepter und Siegel, und die anderen Insignien auch für Marx von entscheidender Wichtigkeit. Er repräsentierte zu dieser Zeit noch als einziger verbliebener Amtsträger die alte theologische Fakultät, die Erich Kleineidam für die damalige Zeit als „theologische Fakultät ohne Theologen“[24] bezeichnet hat[25]. Die Amtssymbole galten auch Marx als Zeichen für die Legitimität und den Besitz seines Amtes, an denen es unter nahezu allen Umständen festzuhalten galt. Ebenso wie die Gegenseite davon ausging, dass ohne die überlieferten Amtsinsignien der zukünftige neue Dekan und seine Fakultät nicht handlungsfähig sein würden, war auch Marx selbst der Auffassung, dass er sein Amt und dessen Würde so lange innehabe, wie er im Besitz der in der Fakultätskiste befindlichen Amtsinsignien sei. Allerdings befand er sich angesichts der eindeutigen Verteilung der Macht zugunsten der schwedisch-protestantischen Seite in einer schwierigen Situation. Ausflüchte und Argumentationen im Sinne von Recht und Tradition waren in ihr eher angeraten als direkter Widerstand.

Als denn am 14. Mai 1633 der vom städtischen Rat geschickte Universitätspedell in seinem Hause erschien, um die „cistam theologicam cum pertinentiis“ mitzunehmen und in das Haus des Rektors der Universität zu überstellen, zog Marx es vor, nicht zu Hause zu sein, sodass der Pedell unverrichteter Dinge wieder abziehen musste.[26] Auch Marx’ Appell an den schwedischen Residenten, Alexander Erskein, mit der Bitte um dessen Unterstützung brachte nicht den gewünschten Erfolg. Er führte lediglich zu dessen Nichteinmischungserklärung und gipfelte nach dem Selbstzeugnis des Klerikers in dem Rat: „Sollte cistam [theologicam] nicht weggeben, wehre sie mir vi [mit Gewalt] abgenommen, musste ich’s geschehen lassen.“[27] Gegenüber weiteren Forderungen des Rektors der Universität auf Rückgabe der Kiste verlegte sich Marx zunächst auf eine Hinhaltetaktik. Er erklärte sich lediglich bereit, gemäß dem Verhalten der anderen Fakultäten zu verfahren und die in der Kiste befindlichen Fakultäts-Statuten herauszurücken, nicht dagegen die anderen Amtsinsignien. Auch wiederholte Besuche und Aufforderungen von zwei Universitätspedellen blieben ergebnislos. Der Altdekan fragte sie, „ob sie befehligt, die Sachen vi und mit Gewalt abzunehmen“, was sie verneinten.[28] Den Rektor Magnificus, Justus Heckel, erinnerte er an seinen Amtseid, der ihn verpflichte, alle Mitglieder der Universität in ihrem Stand und in gleicher Weise zu verteidigen und fügte dem hinzu, dass auch er selbst als Dekan einen Amtseid geschworen habe, die alte Verfassung der Universität zu verteidigen.[29]

So wogte seit dem Mai 1633 ein unentschiedener, mehrwöchiger Streit hin und her. Er war von zahlreichen Noten und Interpellationen begleitet. Diese ließen eines deutlich werden: dass der Konflikt auf der Ebene bloßer inneruniversitärer Wort- und Schriftwechsel allein nicht zu entscheiden war. Anfang Juli trieb die unentschiedene Situation schließlich mit dem Eingreifen des städtischen Syndikus Thiel einer finalen Lösung zu. Sie ist im unveröffentlichten Diensttagebuch von Marx festgehalten. Dort findet sich unter dem 5. Juli der von persönlicher Betroffenheit zeugende Eintrag:

„Wardt mir als Decano Facultatis Theologicae …nachmalig [sic] per pedellum Kylianum angedeutet, dasjenige, welches zur Theologischen Fakultät gehörig, in des Stifts Beatae Mariae Virginis Kapitelstuben für Herrn Doctor Georg Thiel zu deponieren. Als ich aber solches recusierte, kam der Pedellus wiederum [und] zeigte an, [ich] sollte in puncto parieren oder etwas anderes gewärtig sein. Gab ich zur Antwort, ich könnte nicht, da stünde [die] Cista Theologica cum contentis, wäre der Pedellus befehlicht, solches abzuholen, müßte ich es geschehen lassen. Tradieren [i.e. ausliefern] könnte und wollte ich sie nicht.“[30] Auch nachdem der Pedell daraufhin die Fakultätskiste in die Kapitelstube getragen hatte, glaubte sich der Altdekan keineswegs am Ende seines Lateins. Er protestierte nochmals mit starken Worten beim Rektor Justus Heckel und appellierte – freilich vergeblich – an dessen Kollegialität und Amtshilfe: “protestando interim contra omnia attenta et attentanda“, wie er in seinem Selbstzeugnis schrieb. „Antwortet Magnificus, er könnte nicht [mir helfen]. Ich sehe wie es ging“.[31]

Auch in dieser Situation, in der die Fakultätsinsignien nach Androhung manifester Ge­walt in den Besitz der neuen Universitätsmachthaber übergegangen waren, wollte der Altdekan seine Hoffnung nicht ganz aufgeben, dass man ihm wenigstens sein De­kansamt lassen würde, wenn man ihm schon die Zeichen seiner Würde genommen hat­te. Er appellierte dementsprechend an den Vertreter der städtischen Obrigkeit, den Syn­dikus Thiel, der ihm aber lediglich die knappe unverbindliche Antwort erteilte: “Ich sollte nach Haus gehen, [er] wollte [es] einem ehrenfesten Rat referieren.“[32] Unmittel­bar darauf folgend findet sich in Marx’ Tagebuch der lakonische Eintrag, dass am Morgen des 11. Juli der Theologieprofessor Augsburgischen Bekenntnisses eine Frühpredigt im Dom gehalten habe und am Nachmittag Herr Doktor Meyfart seine lateinische Antrittsvorlesung als Dekan, womit, wie er festhielt, die “Theologische Fakultät vomb hiesigen Magistrat auf die Augsburgische Confessions Professoren transferiert [ist]“.[33]

War dieser kleine, symbolische Krieg im großen Dreißigjährigen „Weltenkrieg“ damit endgültig entschieden? Und konnte die solchermaßen reformierte Universität Erfurt sich von diesem Umschlagpunkt aus, wenn nicht ungestört, so doch ohne größere Krisen weiterentwickeln? Dies mochte zunächst so erscheinen.

Vom Herbst des Jahres 1633 an erfolgte in den vier Fakultäten ein regelmäßiges Lehrangebot mit neuen Veranstaltungsformen. Dazu gehörten etwa das Kolleg und (in der Theologie) sogar berufsvorbereitende Übungen, auf die Meyfart in der Ausbildung zukünftiger Prediger besonderen Wert legte[34]. Dazu gehörten aber auch neue Inhalte wie etwa eine stärkere Berücksichtigung von Geschichte, Rhetorik und orientalischen Sprachen im Rahmen der Philosophischen Fakultät. Steigende Studentenzahlen, wie sie an bis zu 140 Immatrikulationen[35] pro Jahr abzulesen sind, bezeugen im Vergleich mit jährlichen Immatrikulationszahlen von etwa 20[36] vom Beginn des 17. Jahrhunderts die Attraktivität der Neugründung und den erheblichen Zulauf, den sie trotz der unsicheren und krisenhaften Zeit fand. An ihr trat ein „Leuchtturmprofessor“[37] wie Meyfart in dieser Zeit nicht nur auf seinem Lehrgebiet der praktischen Theologie und der Kirchengeschichte durch ungewöhnliche Leistungen hervor. Er betätigte sich auch als Universitäts- und Bildungsreformer sowie als ein außerordentlich produktiver Schriftsteller. Die neuen Statuten der theologischen Fakultät vom 19. Dezember 1634[38] tragen an erster Stelle seine Unterschrift (als Dekan) vor der aller anderen Kollegen. Aber auch in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung zeigen sie eindeutig seine Handschrift. Insbesondere die am Ende der Statuten erfolgende Betonung des persönlichen Vorbilds, das Professoren und Doktoren nicht nur in der Lehre, sondern im Leben zu bezeugen hätten, und die Hervorhebung der Notwendigkeit der Einübung eines christlich disziplinierten Lebenswandels[39] bei den Studierenden bezeichnen kritische Bildungsziele, von denen auch Meyfarts Schriften bestimmt waren. Dies gilt besonders für seine Schrift über die Universitätsreform und die Bekämpfung der studentischen Sittenverwilderung, des so genannten „Pennalismus“[40]. Neben dieser Schrift sei hier vor allem sein wegweisender Traktat gegen inquisitorische Hexenprozesse und gegen die Anwendung von Folter erwähnt[41]. Es ist die erste Publikation gegen inquisitorische Hexenverfolgung und Folter, die im deutschen Sprachraum unter dem vollen Namen ihres Autors erschien. Diese Schrift, aber mehr noch sein Werk über die Universitätsreform stießen auf starken Widerspruch vor allem bei der lutherischen Geistlichkeit.[42] Sie konnten überhaupt nur publiziert werden, weil Meyfart selbst in diesen Jahren als Vorsitzender des Evangelischen Ministeriums der Stadt Erfurt gleichzeitig auch Vorstand der geistlichen Zensurbehörde der Stadt war und mithin als sein eigener Zensor fungierte. Seine beiden Bücher waren so gewissermaßen eine „Revolution von oben“.[43]

Allein schon diese beiden wagemutigen publizistischen Taten für die Freiheit der Kritik und gegen die gewalttätige Inquisitionspraxis der Hexenanklage und -verfolgung sollten Meyfart auch noch im 21. Jahrhundert ein Denkmal auf dem Campus der Universität Erfurt oder in der Stadt sichern. Dies allerdings ist bisher nicht geschehen. Öffentlich erinnert an ihn nur ein Straßenname in unmittelbarer Nähe desjenigen Hauses, das er als Pfarrer an der Predigerkirche und als Senior der Erfurter protestantischen Geistlichkeit von 1635 bis zu seinem Tod im Jahr 1642 bewohnte, und eine Gedenkplakette an eben diesem Haus (heute Predigerstraße Nr. 4), in das er zog, nachdem er seine vorherige „Dienstwohnung“ am Domberg unter dem Druck der einsetzenden Gegenreformation hatte räumen müssen. Meyfart war jedenfalls das bedeutendste intellektuelle Licht, das in Erfurt inmitten der schwierigen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges geleuchtet hat.

Auch sein „Gegenspieler“ Caspar Heinrich Marx war keineswegs nur universitätspolitisch, sondern auch intellektuell eine bedeutende Figur. Er war ein Kontroverstheologe, geschult im Umfeld seines Mentors und Doktorvaters, des Rektors des Erfurter Jesuitenkollegs und zeitweiligen Dekans der Theologischen Fakultät Johannes Bettingen (1585-1632)[44]. Bereits in den drei Disputationen seines Promotionsverfahrens hatte er sich unter dem Präsidium Johannes Bettingens mit wichtigen kontrovers­theologischen Fragen auseinandergesetzt[45]. Ein Jahr nach seiner Promotion legte er die Schrift „Anti-Coronis Meyfartica cum Coronide Anti-Meyfartica/quam pro Vindicanda orthodoxa R. P. Martini Becani Soc. Jesu S. Th. D.“[46] vor, in der er Johannes Meyfarts anti-katholische kontroverstheologische Hauptschrift „Anti-Becanus“[47], die sich gegen den wichtigsten Vertreter der gegenreformatorischen Theologie im zeitgenössischen Mitteleuropa, Martin Becanus (1563-1624), einen Jesuiten und Beichtvater Kaiser Ferdinands II., gerichtet hatte, wiederum einer ebenso scharfen wie subtil-ironischen und zugleich doch hochachtungsvollen Kritik unterzog.

Was an den Texten von Marx wie Meyfart in diesem Zusammenhang auffällt, sind die ausgesuchte Höflichkeit und wechselseitige Anerkennung, mit der sie mit den Schriften des jeweils anderen umgingen. Ein gewisser irenisch-versöhnender Grundton ist in den kontroverstheologischen Schriften beider Autoren nicht zu übersehen. Auch Marx handelte nach Meyfarts Devise „virtus in hoste laudanda est“[48], mit der sich dieser in seinem Werk über die Universitätsreform hinsichtlich der Schulgründungen der Jesuiten für die Anerkennung der positiven Leistungen des religiösen Gegners ausgesprochen hatte. Dass diese Höflichkeit auch den alltäglichen akademischen Umgang der beiden miteinander in Erfurt wenigstens für eine gewisse Zeit bestimmt haben könnte, ist nicht auszuschließen. Die Quellen jedenfalls schweigen zu persönlichen Kontroversen zwischen beiden im universitären Alltag. In seinem persönlichen Memorandum an den Erzbischof von Mainz, das Marx kurz vor seinem Tod verfasste[49], berichtet er dagegen von einer „steten freundlichen Korrespondenz“ und einem regen Austausch von Büchern, den er in den zurückliegenden Jahren bis in die Gegenwart auch mit den neu ernannten protestantischen Theologen der Universität praktiziert habe.[50] Wer anders als der ihm bereits bekannte, von ihm zwar öffentlich in gedruckter Form kritisierte, aber zugleich doch respektierte und anerkannte Meyfart könnte dies gewesen sein?

Doch allem reformerischen Elan der neuen Universität und dem wechselseitigen Miteinander-Auskommen ihrer neuen, aber auch alten Träger wurde durch ein entscheidendes Ereignis des großen Krieges im Jahre 1635 der Boden entzogen. Gemeint ist nicht etwa eine der großen Schlachten des Krieges, sondern ein Friedensschluss zwischen einigen der kriegsführenden Parteien auf der protestantischen wie katholischen Seite, der so genannte Frieden von Prag im Mai 1635 zwischen dem Kaiser und dem Kurfürsten von Sachsen. In ihn wurde auf Betreiben des Kurfürsten von Sachsen auch die Stadt Erfurt eingeschlossen. Eine der Bestimmungen des Friedens verfügte für die Stadt Erfurt die Rückführung aller zuvor enteigneten Kirchengüter und ihrer Einkünfte an das Erzbistum Mainz.[51] Der Reformuniversität Erfurt war somit nicht nur die finanzielle Basis entzogen, sondern im Wortsinne auch ihre Unterkunft. Sowohl die kostenlosen Dienstwohnungen der Professoren wie auch die Auditorien im Dom wie im Severistift sollten innerhalb kurzer Zeit geräumt werden. Die katholische Restauration stand im Wortsinne ins Haus. Am 10. September 1635 hielt der seit 1634 zum Rektor gewählte Meyfart seine letzte lateinische Rede im Dom, gewissermaßen seine Abschiedsvorlesung oder (wahrscheinlicher) Abschieds-Predigt als Rektor, deren Text mir bisher leider nicht bekannt ist[52]. Gleichzeitig wurde der zurückgekehrte Mainzer Statthalter, Dr. iur utr. Johann Christoph von Harstall, mit seinen Exekutoren tätig, zum einen, um die Restitution der Güter und Einkünfte des Erzbischofs von Mainz in Angriff zu nehmen, zum andern, um die Kanzlerschaft der Universität wieder zu übernehmen und mithilfe dieser Kanzlerschaft die Zustände in der Universität vor ihrer Reform wiederherzustellen und vor allem die katholische theologische Fakultät wieder einzusetzen.

Diese Restauration ging nicht ohne erhebliche und anhaltende Widerstände seitens der Professoren und des Rats der Stadt vor sich. Den ersten Anlass dazu gab die Dekanswahl der theologischen Fakultät am 30. September. Sie fand als Doppelwahl statt. Auf der einen Seite wählte die evangelische theologische Fakultät in der Predigerkirche ihren Kandidaten, Dr. theol. Nikolaus Zapf, den späteren Generalsuperintendenten in Weimar zum Dekan. Auf der anderen Seite trat Caspar Heinrich Marx in Gegenwart des Mainzischen Statthalters in einer Versammlung katholischer Fakultätsmitglieder in seine legitimen Rechte als Dekan wieder ein. Er erklärte die Wahl seines protestantischen Gegenübers für ungültig und forderte vor allem die Rückgabe der Insignia Facultatis. Diese symbolische Machtfrage war für ihn unvergessen. Noch die letzte Eintragung seines „Diarium“ gilt, wenige Wochen vor seinem Tod, in Gestalt eines dort niedergeschriebenen Briefentwurfs an den Erzbischof von Mainz diesem Gegenstand: der am 5. Juli 1633 aus seiner „Behausung“ entwendeten „cistam Theologicam mit allen darin begriffenen documentis, argentae supellectili [silbernen Szeptern]), sigillo [Siegel] und andern Stücken“.[53] Die Wiederaneignung dieser Kiste scheint ihm als (symbolische) Verkörperung seiner Dekanswürde über alle juristischen Forderungen hinaus ein persönliches „Herzensanliegen“ gewesen zu sein[54], das in den umfänglichen Bestimmungen über materielle Restitutionen von Kirchengütern und -einkünften im Gefolge des Friedens von Prag und deren Durchsetzung vor Ort nicht vergessen werden durfte.

Doch der Bericht des Diensttagebuchs zu diesem Punkt bleibt vergleichsweise dürr. Die Informationen vieler Selbstzeugnisse, gleich von welchem Typus der jeweilige Text ist – ob autobiographisches Zeugnis oder chronikartiges, scheinbar nüchternes Diensttagebuch wie im Fall des Caspar Heinrich Marx –, verlangen vor ihrer Auswertung als „Zeitzeugnisse“ stets auch eine Kontextualisierung im Licht anderer, unabhängiger Quellen. Erst dann beginnen sie vermehrt zu sprechen. Im sich dann öffnenden Spannungsfeld erschließt sich eine bis dahin verborgene „soziale Energie“ der Texte.[55] Marx’ Diarium steht gerade im Verbergen seines Ich-Anteils, d. h. in seinem Zurücktreten hinter der chronikartigen Dokumentation, in der Gefahr einer Selbstbespiegelung im Gewand historischer Objektivation, hinter der die Motive des Autors für das Schreiben seines Textes eher verborgen gehalten werden.

Diese Motive können im Fall des Caspar Heinrich Marx allerdings durch einen anderen Text geklärt werden, der sehr viel eindeutiger als sein „Diarium“ die Handschrift seiner Person trägt und seine persönlichen Aspirationen offen legt. In einem sehr persönlich gehaltenen vertraulichen Bericht an den Erzbischof von Mainz, den Marx kurz vor seinem Pesttod am 19.Dezember 1635 verfasste[56], tritt sein Selbstverständnis deutlicher hervor als in seinem Diarium. „Damit aber Ihre Churfürstliche Durchlaucht meiner Person halber umbständiglichen Bericht haben möge, habe ich folgende Relation zu verfertigen… hochnothwendig erachtet“.[57] Marx stellte sich in dieser „Relation…meiner Person halber“ einerseits als legitimer und gewählter akademi­scher Amtsträger dar, dem es, trotz des Streits um die Dekanswürde und Fakultäts­kiste, in den Jahren 1631 bis 1635 stets auch weiterhin um Kooperation und Beibehaltung der Standards der akademischen Gelehrsamkeit innerhalb der reformierten Universität gegangen sei, z. B. durch Mitwirkung an akademischen Examina und an Disputationen (freilich außerhalb der von Protestanten beherrschten theologischen Fakultät).[58] Zugleich präsentierte er sich als politische Persona, als „assessor und executor“ des Erzbischofs von Mainz, d. h. als dessen politisch-religiöser Sachwalter, dem es mit einem von ihm selbst unterzeichneten und am 8. Oktober 1635 öffentlich an die Kirchentüren von St. Severi und des Domes angeschlagenen „Programm“ zur Restituierung der alten Theologischen Fakultät um die Wahrung der Interessen des Kaisers und des Reiches wie auch des Kurfürsten von Sachsen gegangen sei.[59]

Die Geschichte der Erfurter Fakultätskiste wie auch der ersten Reformuniversität Erfurt war mit Marx’ Versuch, im Gefolge des Friedens von Prag die Kiste zurückzuführen und die Reform damit auch symbolisch zu sistieren, keineswegs zu Ende. Marx allerdings schied als Protagonist in diesem Machtspiel frühzeitig aus, denn er verstarb am 19. Dezember 1635 an der Pest. Die protestantischen Angehörigen der Universität übten, freilich in – durch Tod und Abwanderung bedingt – geringer werdender Anzahl, gemeinsam mit dem Rat der Stadt und unterstützt durch einen virtuosen Juristen im Rektoramt, Henning Rennemann, anhaltenden Widerstand gegen die katholische Restauration der Universität[60]. Meyfart und einige seiner Kollegen hielten auch in den Jahren nach 1635, als ihnen ihre Gehälter storniert wurden, weiterhin ihre Lehrveranstaltungen an der Universität Erfurt. Aber die Situation hatte sich für sie umgekehrt, im Vergleich zu derjenigen zwei Jahre früher, die ihnen noch Anlass für Visionen von „ihrer“ Universität als einem zukünftigen akademischen Paradies gewesen war. Jetzt dagegen standen sie als Anhänger des lutherischen Bekenntnisses unter Verfolgungsdruck. Dem gab Meyfart in zwei Briefen Ausdruck, die er gegen Ende des Jahres 1635 an einen seiner engsten Freunde, den Pädagogen und Schulrektor Andreas Reyher in Schleusingen schrieb:

„Facultas siquidem nostra, nisi Christus Jesus obstiterit, si non dissipabitur, tamen valde imminuetur.“[61]

„Pontificii prosequuntur doctores Evangelicos et Confessores ferro et flamma. Evangelici ipsi prosequuntur eosdem fame et siti. Addo ergo, frigore. Deus misereatur mei, et exilium a Sione mittat.“[62]

Es leuchtet ein, dass die Fakultätskiste mit ihren „Pertinentien“ in dieser neuen Situation weiterhin eine herausgehobene Rolle spielte. Sie war jetzt als Verkörperung von Amt und Würden des rechtmäßigen Dekans zum Symbol des Widerstands geworden und wurde bis zur Restauration des Jahres 1649 erfolgreich vor allen Zugriffen höherer Mächte versteckt. Doch was die Vertreter des Erzbischofs von Mainz trotz wiederholter Versuche nicht durchsetzen konnten, das führte die sich verschärfende Notlage in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges herbei. Zwar blieben die Satzungen und Statuten der Reform bis 1649 bestehen, aber sie verloren zunehmend ihre Bedeutung. Der finanzielle Ruin der Stadt Erfurt in diesen Jahren machte auch die geringsten Aufwendungen für „ihre“ Universität nahezu unmöglich. Die Professoren verließen die Stadt, soweit es ihnen nicht gelang, wie z. B. Meyfart, durch Nebeneinkünfte aus einem anderen Amt ihren Lebensunterhalt anderweitig zu verdienen. Bei Meyfart war dies eine Stelle als Pfarrer an der Predigerkriche und als Vorsteher, Senior, der erfurtischen Pfarrerschaft.

Erst eine vom Mainzer Erzbischof im Herbst des Jahres 1649 herbeigerufene kaiserliche Exekutionskommission konnte schließlich mit Drohungen offener militärischer Gewalt dem ersten Erfurter Experiment einer Universitätsreform ein Ende bereiten.[63] Sie kassierte nicht nur die Reformstatuten und erklärte die alte Universitätsverfassung zur einzig rechtmäßigen, sondern setzte auch einen Domherren, Kanonikus Johann Lambertus Winter, als Dekan der theologischen Fakultät ein und erzwang die Auslieferung der Fakultätskiste mit „allen ad decanatum gehörigen Insignien, Büchern, Akten und brieflichen Urkunden“[64].

Hiermit war die Geschichte der ersten Erfurter Reformuniversität beendet. Sie ist in ihren Anfängen wie in ihrem Niedergang und ihrem Ende in mehrfachem Sinn auch eine Geschichte „höherer Gewalt“ in einer Zeit höchster Kriegsverdichtungen, der des Dreißigjährigen Krieges. Sie ist Teil der Geschichte der Stadt Erfurt, aber auch ihrer Teilhabe am großen Weltgeschehen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Doch die erste Erfurter Reformuniversität hat auch ihre eigene, innere Geschichte. Auch diese lässt sich als bloße Geschichte akademischer Institutionen, Programme und ihrer mehr oder minder gelungenen Umsetzung in den Leistungen bestimmter Personen nicht zulänglich schreiben. Auch die Geschichte dieser ersten Reformuniversität Erfurt ist eine Geschichte, in der nicht nur Zukunftsvorstellungen und vorübergehend günstige Machtkonstellationen, sondern auch symbolische Gewalt, persönliches Machtstreben, Machtverteidigung, innere Konflikte und letztlich die Frage der Finanzierbarkeit eine erhebliche Rolle spielten.

Die Geschichte dieses Aufstiegs und Niedergangs wie auch die Geschichte weiterer Reformversuche, wie etwa des gescheiterten Versuchs, den Christoph Martin Wieland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahm[65] und der mit seinem baldigen Weggang aus Erfurt endete, sollte in der Reflexion des Versuchs, eine Reformuniversität Erfurt am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Weg zu bringen, nicht vergessen werden. Sie verdient besondere Aufmerksamkeit gerade dann, wenn es um Versuche einer neuen Traditionsstiftung geht, wie denen in jüngerer Zeit. Es ist auffällig, daß sich diese Versuche, die von der Universität Erfurt, und vor allem ihrem Präsidium (unter Dr. habil Wolfgang Bergsdorf), offiziell unternommen werden, zu einseitig auf eine vermeintlich ununterbrochene und lange Kontinuitätslinie katholischer Reform  berufen. Sie sind geradezu bemüht, die „Erfindung“ einer solchen Tradition[66] mit der „Weihe“ entsprechender  zeremonieller Handlungen zu versehen. Dies geschah in jüngster Zeit in bezeichnender Weise zu Beginn des Jahres 2005. In feierlicher Handlung wurden zwei Fakultätszepter der alten katholischen Fakultät  der Universität Erfurt – die freilich keineswegs mit den Zeptern, von denen hier die Rede war, identisch sind, sondern die bereits am Ende des 17. Jahrhunderts mit den Symbolen der damaligen katholischen Gegenreformation „ restauriert“ und überformt wurden[67] –, durch den Bischof von Erfurt an die neu errichtete katholisch theologische Fakultät der Universität zurückerstattet. Bemerkenswert war dabei die stark verkürzende, ja historisch sogar falsche Begründung des Erfurter Bischofs Wanke, dass es sich hierbei um Insignien der vorreformatorischen alten Universität Erfurt handele, die sich „seit dem Mittelalter“ erhalten hätten[68]. Aufs neue wurden hier zwei Zepter ins Spiel gebracht, deren Alter und Symbolik sich bei genauerer historischer Betrachtung als Teil einer durchaus konflikt- und perspektivenreichen Geschichte höchst unterschiedlicher „Aneignungen“ (Alf Lüdtke)[69] erweisen. Eine einseitig konfessionelle Tradition, die bei der Rückführung der Zepter zu Beginn des Jahre 2005 angesprochen und neu „erfunden“ wurde, dürfte jedenfalls für die Zukunft der „Reformuniversität“ Erfurt im 21. Jahrhundert kaum angemessen sein.


[1] Eine erste Fassung dieses Textes wurde am 31. Januar 2005 als Abschiedsvorlesung an der Universität Erfurt im Rahmen des „Forum Kulturwissenschaften“ gehalten. Ich danke besonders Rudolf Helmstetter für seinen damaligen anregungsreichen, kritischen Respons und für seine Bemerkungen zur besonderen Stilistik und Ambivalenz akademischer Gewalt. Andreas Bähr, Holger Berg, Marian Füssel und Bernd Warlich danke ich für hilfreiche Hinweise. Füssels weiterführende Arbeit: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006 thematisiert mit universitären Rangkonflikten zwar andere Konflikte als die die im Folgenden behandelten religiös-konfessionellen Auseinandersetzungen, enthält aber zahlreiche Anregungen zum Thema der besonderen Riten und Formen akademischer Gewalt.

[2] Zum Gründungsdiskurs s. die in der Amtsperiode des Gründungsrektors Peter Glotz (1996-1999) veröffentlichten beiden ersten Bände der Erfurter Universitätsreden: Peter Glotz (Hg.), Erfurter Universitätsreden I-III, München 1997; Peter Glotz (Hg.), Erfurter Universitätsreden IV-VII, München 1998 und die „Schlussempfehlungen des Gründungssenats“ von 2001, URL: http://www.uni-erfurt.de/leitung/gremien/gruendungssenat/empfehlungen.html, [30.6.2008].

[3] Erich Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt T. 1: 1392-1460, (1964) 2. erw. Aufl. Leipzig 1985, T. 2: Spätscholastik, Humanismus, Reformation: 1461-1521, (1969) 2. erw. Aufl. Leipzig 1992, T. 3: Die Zeit der Reformation und Gegenreformation, 1512-1632, Leipzig 1980, T. 4: Die Universität Erfurt und ihre theologische Fakultät von 1633 bis zum Untergang 1816, Leipzig 1981 sowie zahlreiche weitere Bände zu Spezialthemen, die innerhalb der Reihe „Erfurter Theologische Studien“ erschienen sind.

[4] Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 3, S. 132-136: Das vorläufige Ende der katholischen Universität; ders. Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 4, Kap.1: Die Umwandlung der Universität in eine evangelische Universität 1633 und ihre Reorganisation im Jahre 1649, S. 2-14, S. 4 u. findet sich auch das Argument der Unnötigkeit eines näheren Eingehens auf die neuen Statuten der Reformuniversität, „denn geschichtswirksam wurden sie nicht“ (sic).

[5] Vgl. hierzu die offizielle Presseerklärung der Universität Erfurt vom 21.4. 2005 und die hierin mitgeteilte Würdigung durch den Universitätspräsidenten: „Der Präsident der Universität Erfurt, Dr. habil. Wolfgang Bergsdorf, würdigte Leben und Werk des Gelehrten. Das umfangreiche Standardwerk informiere nicht nur über die Vergangenheit, sondern helfe der jungen Reformuniversität, sich auch mittels der Geschichte ihrer Identität zu vergewissern“, URL: http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/98484, [30.6.2008].

[6] Vgl. oben Anm. 4.

[7] Einen nach wie vor beachtenswerten Einstieg bietet die in Halle entstandene Dissertation von Otto Bock, Die Reform der Erfurter Universität während des Dreißigjährigen Krieges (Hallesche Abhandlungen zur neueren Geschichte H. 46), Halle 1908. Charakteristischerweise wird diese Arbeit bei Kleineidam nicht in der umfänglichen Bibliographie angeführt, sondern nur an nachgeordneter Stelle in einer Fußnote – s. Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 4, S. 5 fn. 1a.

[8] S. Schutzbrief König Gustav II. Adolfs für die Stadt Erfurt, ausgefertigt am 22. September 1631 in Erfurt, und Revers der Stadt Erfurt vom 23. September 1631, in: Sveriges Traktater med främmade magter, Teil 5, III 1630-1632. Hg. C. Hallendorf, Stockholm 1902, S. 530-532 (Schutzbrief) und S. 532-534 (Revers); zur Geschichte Erfurts während des Dreißigjährigen Krieges: Carl Beyer / Johannes Biereye, Geschichte der Stadt Erfurt von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Erfurt 1900-1931, Kap. 18: Erfurt während des Dreißigjährigen Krieges und der nachfolgenden Jahre bis zur Reduktion (1618-1648), S. 525-629; Dieter Stievermann, Erfurt in der schwedischen Deutschlandpolitik 1631-1650, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 57.1996,S.35-68; vgl. hierzu auch meine vergleichende Studie zu Erfurt und Augsburg im Dreißigjährigen Krieg: Hans Medick, Orte und Praktiken religiöser Gewalt im Dreißigjährigen Krieg. Konfessionelle Unterschiede und ihre Wahrnehmungen im Spiegel von Selbstzeugnissen, in: Kaspar von Greyerz / Kim Siebenhüner (Hg.), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800), Göttingen 2006, S. 367-382.

[9] Bock, Reform der Erfurter Universität (wie Anm. 7), Kap. III: Der evangelische Charakter der Reform, S. 30 ff.

[10] Bock, Reform der Erfurter Universität (wie Anm. 7), Kap. I : Die Stellung der Universität zum Staat, S. 1 ff.

[11] Bock, Die Reform der Erfurter Universität (wie Anm. 7), Kap. II: Die Neuordnung der Finanzen, S. 21 ff.

[12] Der volle Titel: Christliche und auß trewen Hertzen wolgemeinte, Auch demütige Erinnerung , Von Erbawung und Fortsetzung der Academischen Disziplin auff den Evangelischen Hohen Schulen in Deutschland: wo etwa dieselbige gefallen, und Schaden verübet, wie solcher in Richtigkeit zubringen und abzuwenden? Schleusingen, in Verlegung Johann Birckners, Buchhändlers in Erffurdt 1636.

[13] Meyfart, Christliche Erinnerung (wie Anm. 12), S. 511 ff. Das Zitat wie auch die übrigen folgenden Zitate wurden vorsichtig modernisiert.

[14] Vgl. etwa auch die Antrittsvorlesung von Meyfarts Kollegen an der theologischen Fakultät, des 1633 neu aus Arnstadt nach Erfurt berufenen Pfarrers Georg Großhain (1601-1638), in der dieser die Verheißungen der neu begründeten Universität Erfurt mit denen des Paradieses verglich: Georg Großhain, Paradisus Geranus Academicus, sive Oratio in qua Academica Erfurtensis cum primaevo, qui in Eden fuit, paradiso comparetur, Erfurt 1633.

[15] Hierzu Hartmut Lehmann, Die Deutung der Endzeitzeichen in Johann Matthäus Meyfarts Buch vom Jüngsten Gericht, in: Pietismus und Neuzeit 14 (1988), S. 13-24.

[16] Meyfart, Christliche Erinnerung (wie Anm. 12), S. 499.

[17] S. zu diesem Doppelfest als einem spektakulären Vorgang religiöser Gewaltausübung und Gewalt­erfahrung Medick, Orte und Praktiken religiöser Gewalt (wie Anm. 8), S. 373 ff. und Bock, Reform der Erfurter Universität (wie Anm. 7), S. 32 f.

[18] Abgedruckt bei Hermann Weissenborn, (Hg.), Acten der Erfurter Universität T.II (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete. Hg. von der Historischen Kommission der Provinz Sachsen, Bd. 8 T. II), Halle 1884, S. 9-22.

[19] Weissenborn, Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 18), T. II, S. 24-45.

[20] S. „Formula Concordiae § 1“, in: Weissenborn (Hg.), Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 18), T. II, S. 11; bemerkenswert ist, dass in der revidierten Fassung von 29.10. 1635, die aufgrund der Bestimmungen des Friedens von Prag erlassen wurde, zwar weiterhin die Berufung auf die Augsburgische Konfession als Grundlage erfolgt „jedoch mit diesem Bescheid… dass der andern Religion zugetane Personen dadurch von der Universität nicht ausgeschlossen oder dero Beneficiorum ohnfähig geachtet (werden)“, ebda. S. 11.

[21] Zu Meyfarts Schriften und zu seiner zeitgenössischen Wirksamkeit grundlegend: Christian Hallier, Johann Matthäus Meyfart. Ein Schriftsteller, Pädagoge und Theologe des 17. Jahrhunderts (Kieler Studien zur Deutschen Literaturgeschichte Bd. 15), Neumünster 1982 (Druckfassung der Dissertation von 1926), hier insbes. Kap. 4: die Wirksamkeit in Erfurt 1633-1642, S. 61 ff.; ferner Erich Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987, hier insbes. Kap. 3: Die Erfurter Jahre 1633-1642, S. 51 ff.

[22] Zur Vita des am 11.2. 1600 als Sohn eines erzbischöflich kurmainzischen Beamten Caspar Heinrich Marx und der Mutter Judith geborenen und am 18.12. 1635 an der Pest verstorbenen Caspar Heinrich Marx: Just Christoph Motschmann, Erfordia Literata oder Gelehrtes Erffurth, Sammlung 1, Erfurt 1729 S. 232-234; Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon, 64 Bde. Halle / Leipzig 1732-1750, hier Bd. 19, 1739, Sp. 1890; bisher genaueste Auflistung der Daten der akademischen und kirchlichen Vita und der wichtigsten Schriften bei: Kleineidam, Universitas Studii Erfordernsis (wie Anm. 3), T. 3, S. 182-183, zur Laufbahn auch ebda., S. 129 ff. Marx war augenscheinlich von früher Jugend ab für eine Karriere im Bereich von Theologie und Kirche bestimmt. Nachdem seine Immatrikulation im auch für die damalige Zeit ungewöhnlichen Alter von 7 Jahren (sic) im Wintersemester 1607/08 an der Universität Erfurt nicht erfolgreich war (M. zahlte zwar die Matrikelgebühren, konnte als Kind aber noch nicht den geforderten Immatrikulationseid leisten), wurde er zur Ausbildung an das Jesuitenkolleg nach Mainz und anschließend auf die dortige Universität geschickt, wo er den Grad eines Bakkalars der Theologie erreichte. Nachdem er am 29. März 1625 in Erfurt zum Priester geweiht wurde, wurde er auf Provision des Erzbischofs von Mainz sehr bald darauf (am 2. Mai 1625) Kanonikus am Dom in Erfurt und als Inhaber einer Lektoralpräbende gleichzeitig auch Professor Ordinarius der Theologie an der Universität. Seine Doktorpromotion erfolgte jedoch erst vier Jahre später. Auf Betreiben des Mainzischen Vizekanzlers und gleichzeitigen Rektors der Universität Urbanus Heun wurde er am 27. November 1629 vom Rektor des Jesuitenkollegs und gleichzeitigen Dekan der Theologischen Fakultät der Universität, Johannes Bettingen, nach Absolvierung der drei vorgeschriebenen Disputationen zum Doktor promoviert. Es handelte sich um die erste theologische Promotion in Erfurt seit 129 Jahren. S. hierzu Kleineidam, Universitas Studii Erfordernsis (wie Anm. 3), T. 3, S. 129 ff.

[23] Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 3, S. 132.

[24] Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 4, S. 9

[25] Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis (wie Anm. 3), T. 3, S. 177 ff.

[26] Marx, Diarium, S. 63v

[27] Marx, Diarium, S. 63v f.

[28] Marx, Diarium, S. 65r.

[29] Marx, Diarium, S. 65v.

[30] Marx, Diarium, S. 69r.

[31] Marx, Diarium, S. 69r.

[32] Marx, Diarium, S. 69v.

[33] Marx, Diarium, S. 69v.

[34] Johann Matthäus Johann Matthäus Meyfart, Bildniß eines waaren Studenten der heiligen Schrifft: genommen auß dem ehrlichen Leben deß … Propheten Daniels, auff der königlichen Academien zu Babylon; auch einfältiglich erkläret bey der löblichen und ernewerten Universitet zu Erffurdt … als die Theologische Facultas daselbsten… das Jahrfest Ihres Ordens am 30. Tage deß Herbstmonats feyerlich begienge im Jahr 1633, Erffurdt 1634.

[35] Dies die Zahl für das Jahr 1633 aufgrund der namentlichen Matrikellisten bei: Weissenborn (Hg.), Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 18), T. II, S. 550 f.

[36] Dies etwa die Zahl für das Jahr 1621 bei Weissenborn (Hg.), Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 18), T. II, S. 532 f.

[37] Ich entnehme den Terminus des „Leuchtturmprofessors“ in leichter Ahistorizität, doch berechtigter historischer Analogiebildung dem Gründungsdiskurs der zweiten „Reform-Universität“ Erfurt am Ende des 20. Jahrhunderts, insbesondere der wortschöpferischen Tätigkeit ihres Gründungsrektors Peter Glotz. Er verwandte diesen Terminus zur Bezeichnung herausgehobener Professuren, sog. „Eckprofessuren“ der neuen Universität und verstand darunter wohl vor allem auch seine eigene Professur für „Medien- und Kommunikationswissenschaften“. Meyfart, der sein Amt als „professor primarius“ durchaus als das einer lutherischen Leuchte in der konfessionellen Finsternis seiner Zeit verstand, hätte sich wohl mit dieser Begriffsbildung einverstanden erklärt.

[38] Die lateinische Originalfassung ist abgedruckt bei Weissenborn (Hg.), Acten der Erfurter Universität (wie Anm. 18), T. II, S. 61-78.

[39] Vor allem Rubrica XVI: De Studiosis Theologiae S. 77-78, Kernpassagen dieses Schlussabschnitts lauten in deutscher Übersetzung: „Streng ist die Stimme des Apostels: ihr Söhne gehorcht Euren Vätern im Herrn. Es gibt aber eine andere, nicht weniger strenge Aufforderung: ihr Väter reizt Eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Disziplin und Anleitung des Herrn. Daher sollten die Doktoren und Professoren ihren Hörern in Lehre und Leben (doctrina ac vita) vorangehen, sie sollen ihnen jedoch kein Beispiel der Übellaunigkeit und Tyrannei geben sondern sollen ihre Ernsthaftigkeit mit Rechtschaffenheit des Geistes und Milde der Sitten verbinden, wodurch allein sie sich bei den Ihrigen Autorität verschaffen.“

[40] Vgl. o. Anm. 12. Zum frühneuzeitlichen Pennalismus und zur zeitgenössischen Kritik daran s. Marian Füssel, Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historischen Forschung 32 (2005), S. 605-648, hier bes. S. 631-640.

[41] Johann Matthäus Meyfart, Christliche Erinnerung, an gewaltige Regenten und gewissenhaffte Prae­dicanten, wie das abschewliche Laster der Hexerey mit Ernst außzurotten, aber in Verfolgung desselbigen auff Cantzeln und in Gerichtsheusern sehr bescheidentlich zu handeln sey…, Schleusingen, in Verlegung Johann Birkners, Buchhändler in Erfurtt 1636. Hinter der Nennung des Autornamens erfolgt auf dem Titelblatt eine nähere Bezeichnung des Autors „der heiligen Schrifft Doctorn, und damals des Fürstlichen Gymnasii zu Coburg verordneten Directorn, aber jetzunder bey der uhralten und erneuerten Unversitet zu Erffurt Professorn“. Zur lebensgeschichtlichen Kontextualisierung von Meyfarts Schrift: Rainer Hambrecht, Johann Matthäus Meyfart (1590-1642), sein Traktat gegen die Hexenprozesse und der Fall Margareta Ramhold, in: Thüringische Forschungen. Festschrift für Hans Eberhardt, Hg. Michael Gockel / Volker Wahl, Köln / Weimar / Wien 1993, S. 157-180.

[42] S. hierzu Hallier, Johann Matthäus Meyfart, (wie Anm. 21), Kap. 4, S. 61-100, hier S. 82 ff.; Trunz, Johann Matthäus Meyfart (wie Anm. 21), Kap. 8, S. 21-244, hier S. 242 ff.

[43] So Erich Trunz in Bezug auf den Traktat gegen die Hexenprozesse, ebd. S. 242.

[44] S. die Vita bei Kleineidam, Universitas Studii Erfordernsis (wie Anm. 3), T. 3, S. 186-187.

[45] S. Verzeichnis der im Deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD17) Marx, Caspar Heinrich, Titel Nr. 4,5,6. Die hier unter Titel Nr. 2 und 3 Marx zugeschriebenen Texte stammen nicht von Marx. Dagegen fehlt ein Verweis auf sein Hauptwerk „Anti-Coronis Meyfartica“ (s. Anm. 46).

[46] Der volle Titel ist: Anti-Coronis Meyfartica /Cum Coronide Anti-Meyfartica / Quam pro Vindicandâ orthodoxà / R. P. Martini Becani Soc. Iesv S. Th. D. / In Manuali controversiarum tradita, vulgataque / De Vbiquitate Humanitatis / Christi doctrina, / Editæ nuper si fas est credere, / A Joanne Matthæo Meyfarto, / Lutheranæ Theologiæ Doctore, & Gymnasii / Coburgici Rectore, / Et ad elumbem de Numulariis Indulgentiis, ut vocat, / Disputationem Erffurtensis cujusdam Theologi examine discutiendam Coburgo transmissam assutæ Coronidi Coburgum Erffurto remittit / Casparvs Henricvs Marx S. Theol. / Doct. Eccles. primariæ Cantor Erfurti &c., Erfurt bei Christoph Mechlaer 1630; deutsche Übersetzung des Titels: Meyfartische Anti-Schlussbekränzung mit einer anti-Meyfartischen Schlussbekränzung, die Caspar Heinrich Marx zur Rettung der rechten Lehre des R. P. Martin Becanus S.J., Dr. der Theologie – die [vermutlich grammat. Bezug auf Meyfartische Anti-Schlussbekränzung] in einer Sammlung [manuale] mit Streitschriften unter dem Titel De Ubiquitate Humanitatis Christi doctrina [Die Lehre von der Allgegenwart der Menschlichkeit Christi] überliefert und verbreitet und neulich, wenn man es glauben darf, von J. M. Meyfart, Dr. der Lutherischen Theologie und Rector des Gymnasiums Coburg, herausgegeben worden ist – für die angeschlossene Schlussbekränzung von Erfurt nach Coburg [zurück]geschickt, nachdem sie zu einer entnervenden Disputation De Numulariis Indulgentiis Pontificorum [Über die Nachgiebigkeit/Nachsicht der Bischöfe gegenüber dem Geld-/Wechselgeschäft], wie sie heißt, von Coburg aus übersandt worden war, um sie im Examen eines Erfurter Theologen zu diskutieren.

[47] Anti-Becanus, Sive Manualis Controversiarum Theologicarum, a Martino Becano, nuper Jesuita ac Sophista exquisitissimo, ex tot opusculis collecti, Confutatio, 2 Bde, Leipzig 1627.

[48] Meyfarth, Christliche Erinnerung (wie Anm. 12), Vorbemerkung h.

[49] Caspar Heinrich Marx, Ohnvorgreifliches Bedencken die Theologische Facultät betreffendt, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Wernigerode, Rep. A 37b I,II, XVI Nr.12. Die Datierung ist auf dem linken oberen Rand der ersten Seite mit „de anno 1636“ angegeben. Sie erfolgte mit einer anderen Schreibhand als der des Haupttextes, die aufgrund ihrer gestochen scharfen und regelmäßigen Züge auf die professionelle Schreibhand eines Kanzleischreibers verweist. Da Marx bereits am 15.12.1635 verstarb, ist aufgrund textinterner Datierungen davon auszugehen, dass dieser Text im November 1635 verfasst wurde.

[50] Marx, Ohnvorgreifliches Bedencken (wie Anm. 49), S. 31 v.

[51] Balduin Herrmann, Johann Georgs I. Politik in der Erfurter Frage 1635-1638. Nach archivalischen Quellen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringer Geschichte und Altertumskunde NF. 11 (1901), S. 317-397.

[52] Eine Kurzform könnte als Einblattdruck veröffentlicht worden sein: Rector Almae, perantiquae Et reflorescentis Universitatis Erfurtensis, Johannes Matthaeus Meyfartus S. S. Th. Doct. ejusdemq[ue] & historiarum Ecclesiasticarum P. P. Omnibus Jurisdictioni Academicae subjectis S. P. D., Erfurt bei Friedrich Melchior Dedekind 1635.

[53] Marx, Diarium, Eintragung vom 4.10.1636, S. 110r.

[54] Marx verweist in seinem Selbstzeugnis „Ohnvorgreifliches Bedencken“, darauf, dass auf der cista Theo­logica „mein Wappen gemahlet“ sei: „daß mihr [als Dekan] Jus gebühret, ist kundt bahr, wird oben imb ersten theil genug probiret, kann auch von ihnen, den augsburgischen confessions Verwanden Herrn professoren, wofern sie nur cistam Theologicam, darin mein wappen gemahlet, librum statutorum, darin in catalogo mein Nahme, Registrum Annuum Facultatis, darin mein als Decani gefurte Rechnung begriffen, in acht nehmen wollen“. Ohnvorgreifliches Bedencken (wie Anm. 49) S. 34 r.

[55] Ich beziehe mich hier auf eine Einsicht von Stephen Greenblatt, Die Zirkulation sozialer Energie, Einleitung in: Ders., Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990, S. 7- 24.

[56] Caspar Heinrich Marx, Unvorgreifliches Bedencken (wie Anm. 49).

[57] Marx, Unvorgreifliches Bedencken (wie Anm. 49), S. 22 r.

[58] Marx, Unvorgreifliches Bedencken ( wie Anm. 49), S. 30 v ff. “in specie meine Person betreffend“.

[59] Das „Programm“ ist aufgeführt bei Marx, Unvorgreifliches Bedencken (wie Anm. 49), S. 25 r f.

[60] S. sein ausführliches Gutachten vom 7. April 1636, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Wernigerode, Rep. A 37b I,II, XVI Nr.12.

[61] „Unsere Fakultät, wenn sie auch nicht zerstreut werden wird, wird doch sehr bedroht werden, wenn Jesus Christus nicht einschreitet.“ Lateinisch zit. bei Hallier, Johann Matthäus Meyfart (wie Anm. 21), S. 96 f.

[62] „Die Päpstischen verfolgen die evangelischen Doktoren und Bekenner mit Feuer und Schwert. Die Evan­gelischen selbst verfolgen sie (d. h. die Katholiken) mit Hunger und Durst. Und ich füge hinzu: mit Kälte. Möge Gott sich meiner erbarmen und mir das Exil aus Zion schicken“. Lateinisch zit. ebda., S. 97.

[63] Bock, Reform der Erfurter Universität (wie Anm. 7), Kap. VI: Der Ausgang der Reform, S. 88 ff., hier S. 104.

[64] Recess vom 25.10.1649, in: Motschmann, Erfordia Literata, Sammlung 1 (1729) S. 514 f.

[65] Zu Wielands Tätigkeit als „Professor Primarius Philosophiae“ an der Universität Erfurt von 1769-1772 und seinen vergeblichen Versuchen, die Universität i. S. der Aufklärung zu reformieren, die mit seinem Weggang endeten s. die dichte Untersuchung aufgrund von Wielands brieflichen Selbstzeugnissen: Annerose Schneider, Wieland als Hochschullehrer in Erfurt im Spiegel seiner Briefe, in: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt 742-1992. Stadtgeschichte-Universitätsgeschichte, Weimar 1992, S. 495-512.

[66] Hierzu vgl. den nach wie vor sehr anregenden Band: Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

[67] Zur Geschichte der Zepter der alten Erfurter Universität vor dem frühen 19. Jahrhundert s. Fritz Wiegand, Szepter, Siegel und Ornate der ehemaligen Universität Erfurt, in: Harry Güthert (Hg.), Festschrift zur Eröffnung der Medizinischen Akademie Erfurt, Erfurt 1954, S. 27-42, hier S. 28 ff. Behandelt werden die Zepter des Rektors wie diejenigen der theologischen Fakultät, die von der Preußischen Regierung nach der Auflösung der Universität 1816 der neu gegründeten Berliner Universität übergeben wurden: Rektoratszepter (heute an der Humboldt Universität) bzw. die Zepter der Theologischen Fakultät, nach 1818 übergeben dem Universitäts-Kurator in Münster, bis 1995 im Besitz der Universität Münster, wo sie noch bis 1968 bei Rektoratswechseln Verwendung fanden, hierzu Bernd Haunfelder / Axel Schollmeier (Hg.), Die fetten Jahre. Münster 1957-1968 in Fotos von Willi Hänscheid, Münster 2004, S. 112. 1995 wurden die Szepter von der Universität Münster dem Bistum Erfurt als damaligem Träger der Theologischen Fakultät zurückerstattet und von diesem 2005, nach Integration der Fakultät für Katholischen Theologie in die Universität, wieder der Universität Erfurt übergeben. Die Zepter der Theologischen Fakultät sind abgebildet und beschrieben von Walter Blaha, in: Erfurt – ein spätmittelalterliches Wissenschaftszentrum. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Erfurt, Katalog zur Ausstellung, Erfurt 2001, S.45 ff. Die Informationen bei Wiegand wie Blaha zur Beschriftung und symbolischen Ausgestaltung der Zepter weisen darauf hin, dass sie in Analogie zu den Rektoratszeptern, aber durchgreifender als diese, Ende des 17. Jahrhunderts grundlegend neu gestaltet bzw. umgearbeitet und mit den Symbolen der katholischen Gegenreformation ausgestattet worden sind.

[68] Vgl. „Diese Zepter machen die Erfurter Hochschulgeschichte sichtbar“. Rede Bischof Wankes bei der Übergabe der Zepter der Theologischen Fakultät an die Universität Erfurt am 14.4.2005: http://www.bistum-erfurt.de/seiten/1076.htm, [30.6. 2008].

[69] Die Vielfalt und Mehrsinnigkeit der menschlichen „Aneignungen“ in der Geschichte und die zentrale Bedeutung des Konzepts der „Aneignung“ i. S. einer konzeptuellen Öffnung für die Mehr- und Vieldeutigkeiten des historischen Prozesses ist von Alf Lüdtke in unterschiedlichen Arbeiten betont und ausgearbeitet worden, u. a. in: Ders., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 15 und S. 254f; Ders., Alltagsgeschichte – ein Bericht von unterwegs, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 278-295, S. 280f. Seine Begriffsprägung bezog sich ursprünglich auf die Thesen des jungen Marx. In seiner Auseinandersetzung mit Hegel betonte Marx gegen ein einseitiges Konzept von Aneignung die „Vielfalt der sinnlichen Aneignung des gegenständlichen Menschen, der menschlichen Werke für und durch den Menschen“, in: Ders., Nationalökonomie und Philosophie, in: Ders., Die Frühschriften, Hg. S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 225-316, S. 240. Vgl. hierzu auch: Marian Füssel, die Kunst der Schwachen. Zum Begriff der Aneignung in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 21 (2006) Heft 3.