Im vergangenen Jahrzehnt fanden Selbstzeugnisse verstärkt die Aufmerksamkeit der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung, aber auch einer weiteren Öffentlichkeit. Autobiographische Texte und Schriften wie etwa Chroniken, Tagebücher und Briefe, aber vor allem auch persönlich gehaltene Lebens- und Überlebensgeschichten, die nicht immer und notwendig die Form autobiographischer Darstellungsweisen i.e.S. haben müssen, stoßen auf zunehmendes Interesse. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Wissenschaftlich sind sie wohl darin zu suchen, dass Selbstzeugnisse einen anderen Zugang zu historischen Wirklichkeiten eröffnen – jenseits der ‚großen’ Überlieferungen, wie sie in den staatlich-behördlichen Aktenüberlieferungen und in Texten aus Politik und Jurisprudenz, Wissenschaft, Philosophie und fiktionaler Literatur vorliegen. [1] Selbstzeugnisse legen nahe, die historische Erkenntnisperspektive auf Handlungszusammenhänge und Praktiken des historischen Alltags zu verlagern. Vor allem machen sie zugänglich, wie Autorinnen und Autoren von Selbstzeugnissen ihre Welt sowie sich selbst als handelnde, leidende und erfahrende Personen wahrgenommen und dargestellt haben. Vor diesem Hintergrund erscheinen Selbstzeugnisse als besonders geeignet, um Vorstellungen und Konzepte von Person, Subjektivität und Individualität in der Neuzeit zu untersuchen [2]. Selbstzeugnisse sind aber immer auch Zeitzeugnisse. Sie weisen eine besondere Nähe zu historischen Ereignissen und Vorgängen auf und bringen deren Erfahrungs- und Handlungsdimension zur Darstellung, zugleich gewähren sie Einblick in die Vielfalt und die Unterschiede persönlicher Wahrnehmungen dieser Ereignisse und Vorgänge.
Die in diesem Portal erstmals publizierten und edierten Selbstzeugnisse, zunächst das „Chronicon Thuringiae“ des Schwarzburg-Sondershausischen Hofrats Volkmar Happe, die Chronik des Erfurter Blaufärbermeisters Hans Krafft, das „Diarium Actorum“ des Erfurter Domherrn und Professors der Theologie Caspar Heinrich Marx und die „Anmerkungen… einiger von 1620 an sich ereigneter Begebenheiten“ des Rudolstädter Kriegskommissars, Steuereinnehmer und Landrichters Michael Heubel wurden alle in oder unmittelbar nach der Zeit des Dreißigjährigen Krieges verfasst. Sie stammen aus derselben Region: den Thüringischen Gebieten Mitteldeutschlands mit Ihrem Hauptort Erfurt, die als Durchzugs-, Aufmarsch- und Aufenthaltsgebiete von Armeen und Truppenteilen ein Zentrum des Kriegsgeschehens bildeten. Die persönlich und konfessionell gefärbten unterschiedlichen Darstellungen und Wahrnehmungen beziehen sich häufig auf dieselben Ereignisse. Für die historische Interpretation ergibt sich daraus die Möglichkeit einer Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Die ausgewählten Selbstzeugnisse stellen vier besonders interessante Beispiele aus einer weit größeren Anzahl überlieferter Texte dar[3]. Sie zeigen, dass und wie dieser Krieg aufgeschrieben wurde: wie seine Gewalthandlungen im Alltag der Menschen wahrgenommen, erlitten und erinnert und wie diese Wahrnehmungen der Kriegsgewalt codiert und repräsentiert wurden. In diesen Texten zeigen sich Prozesse der Legitimierung und der Kritik von Gewalt ebenso wie die historisch-kulturell bedingten Möglichkeiten und Grenzen des Handelns innerhalb der Gewaltsamkeit dieses Krieges. Texte wie die hier publizierten Chroniken und Diarien sind somit besonders wertvolle Quellen, von denen aus sich die historische Bedeutung des dreißig Jahre währenden "Weltenkrieges" jenseits der großen staatlichen und konfessionspolitischen Aktionen und Kriegshandlungen auch in ihrem Subjektbezug erschließen lässt[4]. Sie sind Bausteine einer noch nicht geschriebenen Erfahrungs- und Alltagsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges und machen damit die zeitgenössischen Bedeutungszuweisungen eines Krieges zugänglich, der für die Erforschung großer historischer Prozesse und langfristiger Entwicklungszusammenhänge der Frühen Neuzeit und Neuzeit wie etwa der Staatsbildung und Konfessionalisierung, aber auch der Vielfalt der Formen physischer wie symbolischer Gewalt nach wie vor einen zentralen Bezugspunkt markiert.
Die Texte Volkmar Happes, Hans Kraffts, Caspar Heinrich Marx' und Michael Heubels werden hier in digitaler Form publiziert. Neben einer Präsentation der Faksimiles der Originaldokumente sind die in sprachlich leicht modernisierter Form transkribierten Texte nicht mehr (wie dies noch bei der ersten Edition des Krafftschen Texts der Fall war[5]) mit einem konventionellen editorischen Anmerkungsapparat versehen, sondern mit einer reichen Sach-, Personen- und Ortskommentierung[6], die als Hypertext über ein elektronisches Verweissystem zugänglich wird.
Der Umfang der hier edierten Textseiten (von insgesamt 2636 Seiten) wie auch die große Menge der angebotenen kommentierenden und mit den Texten vernetzten Einzelinformationen (insgesamt 1982 Sach-, 2603 Personen- und 985 Ortskommentierungen sowie 2276 Übersetzungen lateinischer Textabschnitte und 993 Einzelerläuterungen als Fußnoten) wäre als konventionelle Edition im Buchdruck schon aus Kostengründen angesichts von mehr als 2600 größtenteils farbigen Faksimiles kaum möglich gewesen, vor allem aber wäre sie auch außerordentlich schwer benutz- und erschließbar gewesen. Die hier elektronisch veröffentlichten Texte und kommentierenden Hypertexte mit ihren Recherchetools und sonstigen Erschließungsmöglichkeiten, z.B. im Suchprogramm und im kartographischen Anhang, beschreiten am Beispiel von vier Selbstzeugnis-Texten aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges somit auch einen neuen Weg der Text- und Informationserschließung. Er will zukünftige Forschungen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, besonders in Mitteldeutschland, erleichtern und anregen. Die hier vorgelegten Editionen verstehen sich von daher als ein benutzerfreundliches elektronisches Laboratorium zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.
Die kontinuierliche öffentliche und kostenfreie Nutzung dieses Forschungsportals ist durch vertragliche Abmachungen mit der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena und mit anderen öffentlichen Institutionen aus Mitteldeutschland sichergestellt, welche die digitale Publikation der Originalzeugnisse aus ihren jeweiligen Beständen gestattet haben: dies sind neben der ThULB die Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, das Thüringische Staatsarchiv Rudolstadt und das Landeshauptarchiv Sachsen- Anhalt, Abteilung Magdeburg. Die Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena wird Sorge tragen, die hier vorgelegten elektronischen Publikationen im Rahmen ihrer „University Multimedia Library of Jena“ (UrMEL) auf Dauer zur Verfügung zu stellen.
Auf diese Weise soll der steigenden Bedeutung elektronischer Medien Rechnung getragen werden, die zunehmend in das Bewusstsein der historisch-kulturwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch aller Geschichtsinteressierten und einer weiteren Öffentlichkeit tritt. In der Diskussion über die digitale Repräsentation von Quellenmaterial und der dazugehörigen Informationen wird zu häufig übersehen, dass es dabei nicht nur um Fragen der technischen Erleichterung des Informationszugriffs und -austausches geht, sondern auch um neue Formen der Forschung, der wissenschaftlichen Arbeit und der Erkenntnisgewinnung. Die reflektierte Anwendung elektronischer Medien in den Geschichts- und Kulturwissenschaften überschreitet bisherige Grenzen der Forschung. Die Veränderung der Organisation und der Verfügbarkeit von Wissen durch digitale Editionen, wie sie hier publiziert werden, hat heuristische und epistemologische Implikationen: Über die Repräsentation von historischen Quellen als digitale Faksimiles wird eine jederzeitige Einseh- und Verfügbarkeit historischer Originaldokumente erreicht. Dies ermöglicht eine permanente Durchsichtigkeit der Transkription in Bezug auf das Original. Sie stellt damit auch die editorischen Erschließungs- und inhaltlichen Interpretationsvorschläge in neuer Weise auf den Prüfstand. Denn über die bewegliche Handhabbarkeit des Forschungsinstruments digitaler Editionen generiert sie neue Auswertungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Damit macht sie in verschärfter Weise die Fiktion der Endgültigkeit von Editionen wie auch jeder Interpretation deutlich. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine Relativierung des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs historischer Erkenntnis, sondern bietet vielmehr neue wissenschaftliche Erkenntnischancen.
Die digitale Repräsentationsmöglichkeit von Originaltexten, wie sie in den vorliegenden exemplarischen Editionen von vier mitteldeutschen Selbstzeugnissen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges vorgestellt wird, versteht sich deshalb auch als Anregung und Herausforderung für innovative Formen wissenschaftlicher Darstellung, Forschung und Kommunikation. Es ist die Aufgabe und das Ziel des Projektes "Mitteldeutsche Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges", diese neue Repräsentationsmöglichkeit in der Form exemplarischer digitaler Editionen zur Verfügung zu stellen, zu nutzen und weiter zu entwickeln.
Göttingen, den 30. August 2008
[1] Den besonderen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten, welche die historisch- kulturwissenschaftliche Untersuchung von Selbstzeugnissen bietet, widmet sich eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen in einem seit dem Jahr 2004 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Auch die hier vorgelegte Edition des „Chronicon Thuringiae“ des Volkmar Happe profitierte von den Diskussionen und vom Austausch dieser Forschergruppe. Sie wurde gleichzeitig vom ehemaligen Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte (1956-2007) und der an diesem Institut bereitgestellten Expertise in Historischer Fachinformatik unterstützt.
[2] Diese
Thematik bildet einen der Forschungsschwerpunkte der in Anm.1 erwähnten
Forschergruppe. Eine methodisch und konzeptuell wichtige Einführung in die
Forschungsmöglichkeiten mit Selbstzeugnissen bietet der wichtige Aufsatz:
Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte
im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. In:
dies. (Hgg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von
Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. (= Querelles. Jahrbuch für
Frauen- und Geschlechterforschung 10), Göttingen 2005 S. 7-27. Wichtig, vor
allem auch in Bezug auf Selbstzeugnisse des 17. Jahrhunderts: Benigna von
Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche
Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische
Anthropologie. Kultur-Gesellschaft-Alltag 2.1994 S.496-496.
Eine Buch-Publikationsreihe für Forschungen zur Selbstzeugnisthematik und für
exemplarische Texteditionen erscheint seit 1993, zunächst im Akademie Verlag
Berlin, seit 1996 im Böhlau Verlag (Köln/Weimar/Wien) unter dem Titel
„Selbstzeugnisse der Neuzeit“, hg. von Kaspar von Greyerz, Alf Lüdtke, Hans
Medick, Jan Peters, Claudia Ulbrich, Dorothee Wierling. Bis Anfang 2007 wurden
15 Bände publiziert. Zwei Selbstzeugnisse aus der Zeit des Dreißigjährigen
Krieges wurden hier in gedruckten exemplarischen Editionen vorgelegt: Jan
Peters (Hg. und Einl.), Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle
zur Sozialgeschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit Bd. 1), Berlin 1993; Fabian
Brändle und Dominik Sieber (Hgg. und Einl.), Augustin Güntzer, Kleines Biechlin
von meinem ganzten Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus
dem 17. Jahrhundert (Selbstzeugnisse der Neuzeit Bd. 8), Köln/ Weimar/Wien
2002.
[3] Einen gedruckten Überblick über zumeist publizierte Selbstzeugnisse des deutschen Sprachraums gibt Benigna von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis (Selbstzeugnisse der Neuzeit Bd. 6), Berlin 1997. Wie Nachforschungen von Hans Medick ergaben, ist freilich bereits die Zahl der gedruckten Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges aus dem mitteldeutschen Raum erheblich größer als die Zahl der in von Krusenstjerns Publikation genannten Zeugnisse. Sie dürfte durch ungedruckte, in Archiven oder in Privatbesitz befindliche Zeugnisse noch erheblich vermehrt werden.
[4] S. hierzu auch Hans Medick und Benigna von Krusenstjern (Hgg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, 2. Aufl. Göttingen 2001. Die mit der Datenbank MDSZ vorgelegte Reihe von exemplarischen Editionen mit ihren beigefügten umfänglichen Personen-, Sach- und begriffshistorischen Erklärungen stellt eine Teilverwirklichung des „Informationssystems Dreißigjähriger Krieg“ (IDK) dar, das Norbert Winnige erstmals im o. a. Sammelband skizziert hat: Ders., Informationssystem Dreißigjähriger Krieg (IDK), in: Medick und von Krusenstjern (Hgg.), Zwischen Alltag und Katastrophe S. 621-625.
[5] Sie erfolgte im Jahr 2004 auf dem Bibliotheksserver der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt, wo sie bis zur Vorlage einer der neuen überarbeiteten Ausgabe des Textes im Rahmen dieses Portals einsehbar war unter: ub.uni-erfurt.de/MDSZ. Diese ursprüngliche Auflage ist durch die Neuauflage ersetzt.
[6] Für entscheidende Mitwirkung bei den personen-, begriffs- und sachgeschichtlichen Erläuterungen sind die Herausgeber Dr. Bernd Warlich (Volkach) zu besonderem Dank verpflichtet. Er stellte sein reiches Wissen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges engagiert der gesamten Editionsarbeit zur Verfügung und betreute in Zusammenarbeit mit Hans Medick maßgeblich die Edition der „Anmerkungen… einiger von 1620 an sich ereigneter Begebenheiten“ des Michael Heubel. Er leistete ferner einen großen Teil der Erschließungs- und Übersetzungsarbeiten an den Texten des Caspar Heinrich Marx.