„Den 3. November 1618 ist ein schrecklicher Comet am Himmel erschienen, der etzliche Monath und gar bis in das folgende Jahr gesehen war; denn darauf in aller Welt Krieg, Aufruhr, Blutvergießen, Pestilentz und theure Zeit und unaussprechlich Unglück erfolget. Kein schrecklichen Comet man spürt, der nicht groß Unglück mit sich führt. In diesem Jahre ist der Böhmische Krieg angangen und starck continuiret worden. Was auf diesem Cometen vor schreckliche Aufruhr, Krieg, Mord, Theurung, Pestilentz, Verenderung, Fürstenthümer und Herrschaften erfolget, die evangelische Religion verfolget, an vielen Orthen ausgetilget und dargegen der päbstische Greuel wiederumb eingeführet worden, das ist aus folgenden beschriebenen actitatis zu vernehmen.“[1]
Nach dem Fenstersturz zu Prag am 23. Mai war es dieser Komet vom 3. November 1618[2] , der das Zeichen setzte für dreißig Jahre Krieg. Und seine Erwähnung diente dem Verfasser als Auftakt für eine ungewöhnliche Niederschrift dieses Krieges. Die zitierten Worte stammen aus der Feder des protestantischen Amtsschössers und Hofrats Volkmar Happe, dessen Chronicon die zahlreichen kriegerischen Gewalthandlungen, wie sie vor allem in der mitteldeutschen Grafschaft Schwarzburg-Sondershausen, darüber hinaus jedoch auch auf der größeren politischen Bühne erlebt und erlitten wurden, vom Anfang des Krieges bis zum Beginn der vierziger Jahre minutiös und protokollarisch verzeichnet. Doch nicht allein die Kriegsgewalt der Söldner wird festgehalten. Darüber hinaus beschreibt der Verfasser die vielfältigen und zahlreichen Versuche der Bevölkerung, dieser Gewalt auf lokaler Ebene Widerstand entgegenzusetzen. Außerdem stellt Happe der Chronik des Krieges eine Geschichte seiner Familie voran und notiert all diejenigen Ereignisse, die den Fortgang eines politisch-sozialen Alltags jenseits der Kriegsgewalt dokumentieren: Geburten, Hochzeiten, Patenschaften, Todesfälle und Beerdigungen sowie Amtsgeschäfte und Ereignisse gräflicher oder überregionaler Großer Politik. Darüber hinaus finden sich Nachrichten über folgenreiche Naturereignisse wie Pest und Seuchen, Überschwemmungen und Brände, Dürre und Frost, Gewitter und Sturm sowie über besondere Unglücksfälle und Verbrechen.
Angesichts ihrer vielfältigen wissenschaftlichen Interpretationsmöglichkeiten werden diese Aufzeichnungen hier nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Lange Zeit waren sie nahezu in Vergessenheit geraten, nachdem ihr früherer Besitzer Christian Gottlieb Buder (1693-1763), Professor der Rechte und Geschichte zu Jena, das Manuskript als Teil seines Nachlasses der dortigen Universitätsbibliothek vermacht hatte, wo es bis heute aufbewahrt wird. [3] In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Chronik in das Blickfeld der thüringischen Heimat- und Landesgeschichtsforschung sowie der Familiengeschichte und Vererbungslehre [4] . 1937 zitierte der Bliederstedter Lehrer Karl Köhler Auszüge des Textes in seinen Beiträgen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in Nordthüringen [5], um dann zwischen 1968 und 1970 eine zwar nahezu vollständige, jedoch vielfach fehlerhafte Transkription des Textes zu erstellen. Zusammengebunden mit den früheren Publikationen von Hermann Gresky [6] und einem Aufsatz von Wolfgang Huschke [7] wurde sie 1993 vom Stadtarchiv Sondershausen in einer neu erarbeiteten Abschrift als vervielfältigtes Typoskript für den lokalen Gebrauch veröffentlicht. [8] Die vorliegende Ausgabe präsentiert die Chronik in einer digitalen Edition, in der dem transkribierten Text eine digitale Kopie des Originals gegenübergestellt worden ist. Zur Verbesserung der Lesbarkeit ist die Textabschrift sprachlich vorsichtig modernisiert worden. Darüber hinaus wurde sie als wissenschaftliche Edition mit einem Sach- und Personenkommentar, mit einem textkritischen Apparat sowie mit einem Ortsregister versehen, auf dessen Basis eine digitale Karte der Region erstellt worden ist.[9]
Der Verfasser des Chronicon Thuringiae wurde am 15. November 1587 im thüringischen Greußen geboren. Die Familie lebte zum einen von der Landwirtschaft, zum anderen vom Handel mit Wein und Tuch sowie mit Waid, dessen Anbau in Thüringen weite Verbreitung besaß, bevor er als Färbemittel der überseeischen Konkurrenz des Indigos weichen musste. Mit Volkmar Happe dann begannen Mitglieder der Familie, Berufe im Dienst der Landesherrschaft zu ergreifen; sie setzten damit eine familiäre Tradition fort, die bereits in Happes Elterngeneration lokale Amtsträger hervorgebracht hatte. Nachdem Volkmar Happe seit 1601 das Gymnasium zu Gotha besucht hatte, ging er 1607 zum Studium der Rechte nach Tübingen, 1608 wechselte er nach Straßburg, 1609 nach Altdorf und 1611 nach Jena. Nach Abschluss seiner Studien betrieb auch er zunächst eine Waidhandlung, jedoch nicht ohne sich nebenbei bereits als Advokat zu betätigen. Im November 1619 dann wurde Happe von den schwarzburg-sondershäusischen Grafen der Unterherrschaft [10] zum Amtsschösser in den Ämtern Keula und Ebeleben berufen. Seine Tätigkeit erbrachte ihm nach vier Jahren, im Oktober 1623 die Beförderung zum Hofrat des Grafen Christian Günther I. von Schwarzburg-Sondershausen (1578-1642), und damit verließ Happe den Amtssitz Keula: Noch 1623 zog er zunächst in die gräfliche Residenz Ebeleben, 1638 dann nach Sondershausen, wo er 1643 schließlich, nach dem Tod Graf Christian Günthers, von dessen Nachfolger Graf Anton Günther I. (1620-1666) zum Direktor des Konsistoriums und der gräflichen Kanzlei ernannt wurde. [11] Gegen Ende des Krieges schied Happe aus dem Dienst aus und bewirtschaftete seitdem seinen ansehnlichen Besitz an Weinbergen, Feldern und Häusern. Gestorben ist er vermutlich vor 1659; das genaue Todesdatum ließ sich bisher nicht ermitteln. [12]
Während des Krieges war die Familie Happe, teils gemeinsam, teils getrennt, häufig auf der Flucht vor durchziehenden Soldaten oder grassierender Pest, zum ersten Mal 1631: von Ebeleben nach Arnstadt, dann nach Erfurt und im November 1632 zurück nach Ebeleben. Zwischen 1636 und 1638 wich sie, zum Teil im Gefolge des gräflichen Hofstaats, nacheinander nach Mühlhausen, Holzsußra, Keula, Greußen und Sondershausen aus. Und auch als Graf Christian Günther im November 1638 die Hofhaltung aus dem allzu unsicheren Ebeleben nach Sondershausen verlegte, kehrte nicht wirklich Ruhe ein. Im Frühjahr 1640 musste sich die Familie angesichts eines Überfalls schwedischer Reiter zwischenzeitlich zunächst auf das Sondershäusische Schloss und anschließend in die Stadt Nordhausen in Sicherheit bringen. [13]
Hintergrund dieser zahlreichen Fluchten ist die besondere geopolitische Situation Thüringens in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Angesichts ihrer Mittellage im Heiligen Römischen Reich war die Region den zahlreichen Truppenbewegungen der kämpfenden Parteien in besonderer Weise ausgesetzt. Dies gilt, wie Karl Köhler detailliert herausgearbeitet hat und hier kurz und exemplarisch ausgeführt werden soll, vor allem für den Anfang der dreißiger Jahre. [14]
Nach den großen politischen und militärischen Erfolgen der Katholischen und der anschließenden Verabschiedung des Restitutionsedikts 1629 geriet die Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen [15] zunächst unter starken Einfluss der Kaiserlichen. Eine große Belastung durch Kontributionsleistungen war die Folge, an der auch die Ablösung Wallensteins durch den Grafen Tilly auf dem Kurfürstentag zu Regensburg 1630 nichts änderte. Die anhaltende Last ließ den sächsischen Kurfürsten Johann Georg Anfang 1631 den Leipziger Konvent einberufen, auf dem sich ein Widerstand der evangelischen Stände formierte, dem auch die Bevollmächtigten der Sondershäusischen Grafen ihre Zustimmung nicht verweigerten. Auch wenn die anwesenden Fürsten mit dem Leipziger Bund lediglich ein Defensivbündnis schlossen, schufen sie doch eine eigene Truppenmacht, die den Argwohn nicht allein Gustav Adolfs, sondern auch und vor allem des Kaisers hervorrufen musste. So zog Tilly Anfang Juni 1631 mit seinen Söldnern nach Sondershausen. Nachdem Hofrat Happe es für sicherer erachtet hatte, keinen Widerstand zu leisten, sondern den Kontributionsforderungen des kaiserlichen Oberkommandierenden nachzukommen, erfolgte dessen allmählicher Abzug. Doch die Entlastung, die er brachte, machten andere schnell zunichte. Der Einbruch Tillys in Sachsen im Herbst des Jahres trieb dessen Kurfürst in die Arme der Schweden und, nach der Schlacht bei Breitenfeld am 17. September 1631, die Schweden nach Thüringen. Mit Hilfe Herzog Wilhelms von Sachsen-Weimar, der von Gustav Adolf Anfang Oktober zum Militärgouverneur von Thüringen und Erfurt ernannt worden war, übten sie über Schwarzburg-Sondershausen ihre Herrschaft aus. Der seinerzeit mangelnde Widerstand gegen Tilly brachte der Grafschaft nun weitreichende Plünderungen und schwerwiegende Kontributionsforderungen durch die Schweden ein. Hinzu kamen rege Söldneranwerbungen, die ihrerseits wiederum den vom Kurfürsten Maximilian von Bayern eingesetzten Grafen von Pappenheim auf den Plan riefen. Daneben brachte der Durchzug des schwedischen Obristen Johan Banér im März 1632 neue Lasten, und als dieser und Herzog Wilhelm schließlich abgezogen waren, verhinderten nochmals Pappenheims Soldaten eine Atempause. Die Eroberung Heiligenstadts durch Pappenheim führte zu einer Flucht eichsfeldischer Bauern in die Ämter Keula und Ebeleben, gegen die die dortigen Selbstverteidigungsbemühungen weitgehend erfolglos blieben. Und als dann die Heere Wallensteins und Gustav Adolfs anmarschierten, um am 16. November 1632 bei Lützen die (auch) für den Schwedenkönig tödliche Schlacht zu schlagen (und ebenso, als sie wieder abmarschierten), war wieder die thüringische Region die von den Truppenbewegungen am stärksten betroffene.
Mit der Schlacht bei Lützen, dies zeigen bereits die genannten späteren Fluchtbewegungen der Familie Happe, war der Dreißigjährige Krieg für Schwarzburg-Sondershausen nicht vorbei. Noch bis 1641 verzeichnet der Hofrat Gewaltereignisse in großer Zahl, und auch mit diesem Jahr war lediglich die Aufzeichnung, nicht jedoch der Krieg in der Grafschaft ans Ende gelangt. Weiterhin litt die Bevölkerung unter Durchzügen, Einquartierungen und Plünderungen der Soldaten. Dabei wird wiederholt betont – nicht allein von Happe, sondern auch von anderen zeitgenössischen Beobachtern und Chronisten –, dass sich die Gewalthandlungen im überlieferten Freund-Feind-Schema nicht mehr verorten ließen: Das Kriegsvolk der verbündeten Schweden schien nicht besser, sondern – im Gegenteil – vielfach schlimmer als das der gegnerischen Seite der Kaiserlichen; klare Frontlinien lösten sich auf. [16]
In diesen Beschreibungen manifestiert sich das Bewusstsein von einer besonderen Erschütterung tradierter Ordnungen im Dreißigjährigen Krieg. Neben Einblicken in alltägliches Leben dieser Zeit ist es dieses Bewusstsein, das die Chronik Volkmar Happes für eine kulturwissenschaftlich orientierte Geschichtswissenschaft in besonderer Weise interessant macht. Dazu sollen im Folgenden einige Überlegungen und Interpretationsansätze vorgestellt werden. Das Bewusstsein von einer grundlegenden Infragestellung bisher unhinterfragbarer Gewissheiten wirft die Frage auf nach dem Verhältnis von Gewalt und Ordnung in dieser Zeit. Diese Frage betrifft zum einen religiöse, gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen, zum anderen und damit jedoch ist sie auch die Frage nach der Ordnung des Menschen als Person. Zu fragen mithin ist, wie sich Menschen im spezifischen Verhältnis von Gewalt und Ordnung als Personen konstituierten. Diese Frage basiert auf der Grundannahme, dass das aufklärerische Konzept der Person als eines handelnden Individuums, als eines die (eigene) Ordnung selbst setzenden Subjekts für die Frühe Neuzeit so nicht vorausgesetzt werden kann. [17]
Die Chronik Volkmar Happes berichtet von einer spezifischen Erfahrung der Gewalt, die, wie bereits das Eingangzitat dieser Einleitung zeigt, regelmäßig als eine „schreckliche“ vorgestellt wird. Auffällig dabei ist eine spezifische, wiederkehrende Semantik der Unaussprechlichkeit, die sich ebenfalls bereits in Happes einleitenden Worten, aber nicht nur dort findet. [18] Diese Semantik sucht eine Erfahrung des „Jammers“ zu artikulieren, die die Grenzen des Artikulierbaren überschritten zu haben scheint. Angesichts dieser Erfahrung wäre, so ließe sich vermuten, Schweigen geboten. Gleichwohl schweigt Happe nicht, im Gegenteil. Der wiederholte Hinweis auf die Nicht-Darstellbarkeit des Dargestellten wird zu einer eigenen Sprache: zum Aussprechen des Unaussprechlichen – im Hinweis auf dessen Unaussprechlichkeit. Vor diesem Hintergrund verweist diese Unaussprechlichkeit der Erfahrung jammervoller Gewaltsamkeit nicht auf die Unaussprechlichkeit einer Subjektivität der Empfindung und des Gefühls, die in der Moderne nicht allein die Möglichkeitsbedingung, sondern auch die Grenze der Sprache markiert. Insofern die Unaussprechlichkeit hier ihrerseits zur Sprache, zum regelmäßigen Element des Textes wird, verweist sie vielmehr in besonderer und pointierter Weise auf die problematische und gleichwohl konstitutive Beziehung von Subjektivität und Text. Vor dem Hintergrund der Dekonstruktion des modernen autonomen Subjektes stellt sich die Frage, welche Konstruktion von Person sich in Beschreibungen subjektiver Gewalterfahrungen des Dreißigjährigen Krieges finden lässt. Umgekehrt dann kann der Blick auf die Konstitutionsbedingungen derer, die hier „ich“ und „wir“ sagen, zeigen, dass und vor allem inwiefern es sich bei der Vorstellung vom autonomen Subjekt um ein spezifisch modernes Konzept handelt.
Zu diesem Zweck ist zu betrachten, in welchen Ordnungen sich das Subjekt des Textes konstituiert. Dafür sind die Beschreibungen von Gewalterfahrungen des Dreißigjährigen Krieges insofern besonders aufschlussreich, als sie zunächst auf eine umfassende Erschütterung von Ordnung zu verweisen scheinen: auf eine Erschütterung religiös-konfessioneller, politisch-sozialer und geschlechtlicher Ordnung sowie auf grundlegende Störungen und Zerstörungen personaler Integrität. In der Lektüre dominieren zunächst diese Zerstörungen: Neben der eigentlichen Kriegsgewalt vermerkt der Verfasser etwa die Missachtung tradierter ständischer Autorität, [19] die Gott- und Ehrvergessenheit von Dieben, Räubern und Soldaten [20] , die Grund- und Sinnlosigkeit von Gewalthandlungen [21] und die Verletzung des grundlegenden Prinzips der Gegenseitigkeit [22] . Un-Ordnung, so zeigt sich hier, erscheint als eine notwendige Entstehungsbedingung des Textes: als ein Anlass des Schreibens. Auf der anderen Seite jedoch verweisen Texte wie Happes Chronik, verweist das Schreiben selbst auf die Existenz von Ordnung: auf Versuche, diese in den Zerstörungen des Krieges aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Diese Ordnung ist eine dreifache. Zunächst eine beschriebene: die soziale, politische und geschlechtliche Ordnung, über deren Integrität Volkmar Happe als Hofbeamter, als Amtsschösser und als Familienvater zu wachen suchte. Daher die zahlreichen Hinweise nicht allein auf Familienfeste, Beerdigungen und Amtsgeschäfte, sondern auch auf Happes Bemühungen, die eigene Familie zu schützen und Vergehen in seinem Amtsbereich zu sanktionieren. [23] Dann die Ordnung des Schreibens und des Textes: Happes Chronicon folgt den gattungsspezifischen Vorgaben und Traditionen der zeitgenössischen Chronistik, der familialen Genealogie und des Amtsprotokolls. [24] Das Chronicon ist ein Ver-Zeichnis: Es erfasst die Zeichen für die Integrität und für die Störung von Ordnung. Schließlich die Ordnung von memoria und Gedächtnis: Die Protokolle der Gewalt suchen diese Gewalt zu erinnern: die Kriegsgewalt als Strafe für die Sünden der Menschen. Die Überlieferung tradiert nicht allein die Zerstörung, sie überliefert damit auch, was zerstört wurde: was wieder sein soll. Sie sucht Kontinuität in und angesichts der Diskontinuität, damit nicht wieder zerstört wird. In diesem Sinne ist sie weniger memento mori, weniger Hinweis auf die vanitas mundi: Sie erinnert, was ‚geschehen‘ ist – und was geschehen muss.
Indem Chroniken wie diejenige des Hofrats Happe die (Zer-)Störung von Ordnungen verzeichnen und beschreiben, perpetuieren sie Ordnung, suchen sie deren Störung zu verhindern und gestörte Ordnung wiederherzustellen. Die Forschung zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges war lange Zeit der Auffassung, dieser Krieg habe mit sozialen und religiösen Ordnungen auch diejenige der Schriftlichkeit zerstört. Texte wie Happes „Gewaltregister“ jedoch zeigen, dass dieser Krieg keineswegs ein Ende des Schreibens bewirkte. Angesichts der großen Anzahl Gewalt verzeichnender Selbstbeschreibungen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, wie sie Benigna von Krusenstjern [25] sowie weitergehende Recherchen Hans Medicks im mitteldeutschen Raum nachweisen, erscheint der Dreißigjährige geradezu als ein „aufgeschriebener“ Krieg: als ein Krieg, der eine eigene, an die Schriftlichkeit vor dem Krieg anknüpfende Schriftlichkeit generierte. [26]
Der eingangs zitierte „schreckliche Comet“ war nicht nur Zeichen des kommenden Krieges, seine Erwähnung bei Happe zeigt darüber hinaus, dass all die Störungen von Ordnung, auf die er als Zeichen verwies, auch vor dem Hintergrund einer spezifisch frühneuzeitlichen Kosmologie begriffen werden müssen. [27] Diese Kosmologie war kein interpretatorisches System zur Deutung einer diesem System vorgängigen Wirklichkeit, sie ist kein quasi kometenhaftes Zeichen, schwebend über den Dingen, sondern sie verweist auf eine episteme, in der sich diese dingliche Wirklichkeit überhaupt erst konstituierte. Die Dinge dieser Welt wurden zu Dingen in einer Epistemologie, in der die Dinge immer auch Zeichen für andere Dinge waren, und zugleich Bezeichnetes: Referenzgegenstand für andere Zeichen. Vor diesem Hintergrund waren diese Zeichen immer auch Ursache für das, was sie bezeichneten. Dies gilt auch für diejenigen, die in Selbstbeschreibungen von ihren Gewalterfahrungen berichten. Sie wurden zur ‚Person‘ in einer episteme sympathetischer Analogie und Ähnlichkeit, in der Mikro- und Makrokosmos über ein umfassendes Wirk- und Verweissystem miteinander verbunden waren. [28] Gewalthandlungen, wie sie von Volkmar Happe verzeichnet werden, erschienen vor diesem Hintergrund immer auch als Hinweise auf ein göttliches Wirken in der Welt, die es zu sammeln und später, im Wissen um das Geschehene, (als göttliche Zeichen) zu interpretieren galt. [29] Vor diesem Hintergrund erscheint Happe als Person in einem Kosmos verortet, der nicht er selbst war als empfindendes Individuum, der jedoch auch mehr und etwas anderes war als eine Welt des Sozialen und des religiösen Glaubens. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden.
Für die Jahre 1618 bis 1641 verzeichnet Volkmar Happe, was sich täglich an gewaltsamen Handlungen in seinem Wahrnehmungshorizont: vor allem im Amt Ebeleben in der Grafschaft Schwarzburg-Sondershausen, aber auch im Eichsfeld und bis hin nach Erfurt sowie auf der weltpolitischen Bühne ereignet hat. Durchziehende Soldaten dominieren das Bild, Einquartierungen und Kontributionen, Diebstahl, Raub und Plünderungen, Vergewaltigung und Mord wurden zur Alltäglichkeit. Mit ihnen zogen Pest und Seuchen sowie eine „Theuerung“ durchs Land, die zuweilen mehr Todesopfer forderten als die Kriegshandlungen, die ihnen vorangingen und sie vielfach bedingten. Auch Unwetterschäden erhielten vor diesem Hintergrund eine noch größere Bedeutung als ohnehin. Die Chronik Happes zeichnet ein Bild, das sich auch in anderen zeitgenössischen Beschreibungen des Dreißigjährigen Krieges findet und in Grimmelshausens Simplicissimus nachhaltigen literarischen Niederschlag gefunden hat.
In Happes Beschreibung gehört der Verfasser (als „ich“-Erzähler) nur in wenigen Fällen zu denjenigen, die von der ausgeübten Gewalt selbst unmittelbar betroffen waren. Die Person, die diese Gewalt erleidet, ist in der Regel ein „wir“: Happes Familienangehörige zum einen, darüber hinaus und vor allem jedoch die Bewohnerinnen und Bewohner seines Amtes. Dazu einige Eindrücke aus der Chronik:
„Den 13. März [1636] hat ermelter Graf von Hatzfelt an Unseren Gnädigen Herrn geschrieben, dass die gantze Armee in die Unterherrschaft Schwartzburg geleget und darinnen eine Zeitlang verbleiben solte, welches bey uns armen ausgeplünderten Leuthen unaussprechlichen Jammer causiret. [...] Den 14. April gegen abends ein Regiment keyserliche Reuter zu Schlotheim, Mehrstedt, Holzsußra und Toba eingefallen und aldar Quartier genommen. Es ist ein sehr erbärmlicher, unaussprechlicher, jämmerlicher Zustandt gegen das liebe Osterfest und wütet der Teufel, als wolte er uns gar verschlingen. [...] Diese Zeit [im April 1640] hat sich die Banierische schwedische Armee diesen Landen zu nahen angefangen. Dahero wir in unaussprechlicher Furcht gewesen.“ [30]
Und im resümierenden Rückblick auf das Jahr 1629 erinnert sich Happe:
„In dem nunmehr angewichenen 1629[.] Jahr sind wir durchaus mit vielen keyserlichen Soldaten belebet gewesen. Denn wir starcke Geldcontribution geben müssen, also dass wir gantz verarmet und ist ein unsegliches Jammer und Noth und Elende unter dem armen Volcke gewesen. Anfangs haben wir Crabaten gehabt, hernach haben wir teutsche Reuter des Obristen Piccolomini bekommen. Wie diese abgeführet, haben wir 7 Compagnien von des Obersten Tiefenbachs Fußvolck in die Grafschaft Schwartzburg bekommen, die wir anitzo noch unterhalten müssen. Was vor Mordschlag, Rauberey, Schändungen der Weibes Bilder hin und wieder vorgegangen, ist hoch zu trauern. Darüber haben wir noch viele Durchzüge ausgestanden.“ [31]
Der unaussprechliche Jammer, der hier beschrieben wird, ist nicht der Jammer der Bauern, es ist auch nicht der Jammer Happes angesichts persönlich erlittenen Schmerzes. Es ist der Jammer des Amtsschössers, der sich in paternaler Vormundschaft seiner Bauern sieht. Im Hinweis auf die „armen Bauern“ erweist sich Happe als deren Beschützer, sein Jammer entsteht im Bewusstsein, diesen Schutz nicht mehr leisten zu können. Happes Jammer ist Mit-Leiden, ein Leiden, das ein Wissen um das Leiden der anderen ist. Als Teil des „wir“ scheint Happe selbst nur insofern unmittelbar betroffen, als er als Repräsentant dieses „wir“ figuriert. Hier ist nicht Happes eigene, persönliche Betroffenheit angesprochen. Die Sprache dieses Leidens ist nur zur verstehen aus der sozialen Position, in der Happe sich sieht, im Amt wie auch in der Familie. Dieses Selbstverständnis wird unterstrichen, wenn Happe dort, wo er selbst in Gefahr für Leib und Leben geriet, auf eine Sprache zurückgreift, die in modernen Kategorien auf eine relative emotionale Nicht-Betroffenheit verweist:
„Den 15. Mai [1630] bin ich in Kriegs Geschäften nach Sondershausen mit drey Pferden gefahren. Als ich nun wieder heim fahren wollen, haben mich im Geschlinck in der Hannleuthen sieben Reuter überfallen, mir den besten Gaul aus dem Wagen mit Gewalt genommen, sonsten aber mir weiter keinen Schaden zugefüget.“ [32] Und: „ Den 26. März [1636] bin ich im Nahmen Gottes von Mühlhausen mit Weib und Kinde wieder nach Ebeleben gezogen, ist mir unterwegens gar übel gangen; denn ein voller Soldat mich mit Gewalt todt schießen wollen. Gott aber hat mich behütet. Dem dancke ich dafür von Hertzen.“ [33]
Was hier für Happe bemerkenswert bleibt, ist zum einen der Verlust des besten Pferdes, zum anderen Gottes Schutz; es ist nicht die Möglichkeit, die dabei angedrohte Gewalt zu erleiden. Wenn die oben zitierte „unaussprechliche Furcht“ letztlich auf die Aufgabe des Amtsschössers verwies, den ihm Anbefohlenen die Furcht zu nehmen: sie vor dem Befürchteten zu schützen, dann durfte ‚eigene‘ Furcht nicht sein. Im Hinweis auf die eigene Furcht erscheint der Verfasser nicht als furchtsam, sondern, umgekehrt, als furchtlos. In der Beschreibung eigenen Leidens beschreibt er dessen Überwindung: die Fähigkeit, dieses Leiden standhaft zu ertragen.[34]
Zwei weitere Beobachtungen ergänzen dieses Bild. Wie es das Selbstverständnis des Hofbeamten zu verlangen schien, der eigenen körperlichen Gefährdung in der erinnernden Darstellung keine weitergehende Bedeutung beizumessen, so bewirkte die Infragestellung dieses Selbstverständnisses durch den Dienstherrn weiträumige Klage und die Einforderung göttlicher Gerechtigkeit:
„Den 11. Oktober habe ich einen unglückseligen, sehr wiederwertigen Tag gehabt. Mein Gnädiger Herr hat mir meine Besoldung geringern und den versprochenen Hafer nicht mehr geben wollen. Als ich aber solches durchaus nicht willigen wollen, hat es darauf gestanden, dass ich meinen Abschied bekomme. Denn ich mich entlich resolviret, anders weiter nicht zu dienen, als umb die vorige Besoldung. Entlichen aber hat der Allmechtige Gott, der aller Menschen Hertzen in seiner Hand hat, das wunderliche karge Hertz Ihrer Gnaden also gelencket, dass er mir wie vormahls meine Besoldung weiter zu geben völlig und ohne Abzug durch den Stallmeister Marschallen zusagen lassen, wofür ich alleine meinem lieben Gott hertzlich dancke, und bitte ihn inniglichen, er wolle mich vor falschen Zungen, Verleumdern, Fuchsschwentzern und heimtückischen Lügnern, der es zu Hofe viel giebt, gnädig behüten, sich selbst zu Spott und Schanden machen und mich nicht geben in den Willen meiner Feinde, noch sie über mich herrschen und triu[m]phiren lassen, sondern wieder sie mechtig schützen.“ [35]
Doch auch in höfischer Intrige und Unaufrichtigkeit lag nicht das größte Unglück. Das, wie Happe schreibt, „größte und mit blutigen Threnen zu beweinende Unglück“ war die Verletzung der Integrität des eigenen Bekenntnisses: Das größte Unglück war „auch unter andern in diesem Jahr gewesen, dass die Päbstischen an vielen Orthen die reine evangelische Lehre expelliret und den päbstlichen antichristlichen Greuel wieder introduciret, als im Stift Halberstadt, Minden, Bremen, in dem Stift Walkerode, Illfeld und andern. Auch ist in diesem Jahre das beschwerliche Religions Edict von dem Kayser Ferdinando secundo publiciret worden.“ [36] Das Leiden, das sich emphatisch zu artikulieren suchte, war ein religiöses. Dazu fügt es sich, dass religiös-konfessionelle Zuschreibungen im Spiel sind, wo Gewalt im Ausmaß ihrer Illegitimität charakterisiert wird. So hätten, wie Happe berichtet, sachsen-lauenburgische Söldner „im Ambt Gehren, Arnstadt, und wo sie hingezogen, grausam übel gehandelt, alles geplündert, die Leuthe geprügelt, theils gar mitgenommen, und anders nicht gethan als die ärgsten Feinde, Türcken und Tartern.“ [37] Im Bericht des Protestanten über Gewalt von Protestanten gegen Protestanten konnte die Zugehörigkeit zur eigenen Religion sowie (implizit) zur eigenen Konfession, in rhetorischer Umkehrung, zur Artikulationsfigur für die Grausamkeit der ausgeübten Gewalt werden. Hier standen tradierte religiöse Zuschreibungen zur Disposition. Die ausgeübte Gewalt erschien als desto gewaltsamer, je weniger sie sich entlang der gewohnten religiösen und konfessionellen Grenzlinien vollzog. Im Text wird das Ausmaß illegitimer Gewalt unterstrichen durch die religiös-konfessionelle Gemeinsamkeit von Handelnden und Leidenden: Der türkische, und das heißt: der religiöse Erzfeind hätte es schlimmer nicht machen können. Und in diesen religiösen Deutungshorizont der Gewalt fügt es sich, dass Gott den Frevel illegitimer Gewalt nicht ungestraft ließ: Nachdem kaiserliches Kriegsvolk im Sommer 1626 in der Grafschaft Schwarzburg-Sondershausen „unchristlich“ geplündert und gemordet hatte, zog es weiter nach Ungarn, wo es seinen in Happes Augen gerechten Lohn durch das Schwert der Türken, die Pest, das todbringende Ungarische Fieber und den Hunger erhielt. [38]
Diese Darstellungen zeigen zunächst die besondere soziale und religiöse Dimension der Selbstbeschreibung Happes. Jedoch ist damit deren historisch-kulturelle Spezifik noch nicht hinreichend erfasst. Zu beachten ist vielmehr, dass die beschriebenen gewaltsamen Handlungen und Naturereignisse immer auch als Zeichen göttlichen Zorns verstanden werden konnten: als Ausdruck und Resultat gewaltsamen göttlichen Handelns. [39] Die religiöse Dimension dieser Wirkungsprozesse war nicht Sinngebung, war nicht deren ‚bloße’ Deutung, sondern erschien als deren körperlicher Bestandteil. Sie verweist nicht auf eine körperlose Transzendenz des Göttlichen, sondern auf eine Kosmologie, die gekennzeichnet ist durch eine spezifische Einheit von Religiosität und Materialität: durch eine religiöse Dimension des Materiellen und eine Materialität des Religiösen. [40] Das Sammeln der Zeichen göttlichen Zorns verweist zunächst auf eine Sozialität und eine Religiosität Happes: auf einen Happe, der seine Amtsaufgaben erfüllte,[41] und auf einen Happe, der sich als gläubiger Christ verstand. Dass sich diese Sozialität und diese Religiosität der Person jedoch in dieser Art des Zeichensammelns manifestieren, verweist dann auf deren kosmologische Dimension. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich die Protokolle der Gewalt mit Traumaufzeichnungen in Beziehung setzen lassen, wie sie sich ebenfalls in Happes Chronik finden. Die Aufzeichnung von Träumen hatte in der Frühen Neuzeit eine grundlegend andere Bedeutung als in modernen Vorstellungen. Auch Träume wurden aufgezeichnet, weil sie als Zeichen göttlichen Willens und Zorns gelesen werden konnten. [42] Zum einen konnte Gott im Traum künftiges Geschehen offenbaren. Da die Bedeutung eines Traums zunächst nicht mit Gewissheit zu erkennen war, konnte zumeist erst die Zukunft selbst erweisen, ob der Traum sie ankündigt hatte; [43] und so war der Traum zu notieren und der Fort- und Ausgang der Dinge zu erwarten. Zum anderen konnte sich Gott des Traums bedienen, um, wie bei Happe, zum rechten Leben zu ermahnen. Wer eine derartige Traumerscheinung zu verzeichnen hatte, erwies sich als gläubiger Christ in göttlicher Gnade:
„Die verwichene Nacht [vom 6. auf den 7. Dezember 1634] habe ich einen wunderseltzamen Traum gehabt, unter anderm sind mir in einem Buche, so auf einer Seiten Griechisch, auf der andern Lateinisch gewesen, diese Worte mit Fleiß und Eifer gewiesen worden, sogar unten am Ende des lateinischen Blates gestanden in omnibus actionibus tuis prae oculis habeto Deum.“ [44]
Vor diesem Hintergrund sind die chronikalischen Gewaltbeschreibungen kein Schlüssel zu einem Innenleben: Sie geben keinen Einblick in ein subjektives Erleiden von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg, weder in eine Leiderfahrung Happes selbst noch derer, über die er schreibt; denn das serielle Verzeichnen der Gewalt ist nicht lediglich dem verzeichneten Gegenstand, sondern immer auch besonderen Gattungskonventionen geschuldet. Dies zeigt sich auch dann, wenn eine Chronik wie diejenige Volkmar Happes mit chronikalischen Texten verglichen wird, in denen sich keine Gewaltbeschreibung findet. Auch die einschlägigen Texte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges folgen vielfach den gattungsspezifischen Vorgaben von zeitgenössischer Chronistik, familialer Genealogie, Haushaltsbuch und Amtsprotokoll. [45] Insofern die Form der reihenden Chronistik bereits in Texten gegeben ist, die keine Gewalt bzw. nicht diejenige des Dreißigjährigen Krieges thematisieren, lässt die besondere Serialität der Gewaltbeschreibung nicht unmittelbar eine entsprechende, dieser Beschreibung zu Grunde liegende Gewalterfahrung schließen. Damit wird nicht behauptet, diese Beschreibungen von Gewalt seien ‚fiktiv’ in dem Sinne, dass die beschriebenen Ereignisse nicht stattgefunden hätten. (Ob diese Ereignisse als res fictae oder als res factae zu betrachten sind, ist eine andere Frage, die an dieser Stelle nicht zu beantworten ist.) Entscheidend hier ist, dass die Form: das Strukturprinzip der Beschreibung als Möglichkeitsbedingung der beschriebenen Gewalterfahrung erscheint, und zwar insofern, als sich in ihr die Bedeutung dieser Gewalt zeigt: In der chronikalisch reihenden Beschreibung der Gewalt wird sichtbar, dass Gewaltausübung als ein spezifisches Problem kosmologischer Ordnung(sstörung) wahrgenommen wurde und als solches an dieser Stelle überhaupt erst zur Darstellung gelangte. In diesem Sinne konstituiert hier die Form den Inhalt der Darstellung und nicht der Inhalt seine Form. Diese Beobachtung findet Unterstützung im vergleichenden Blick auf andere Textgattungen. Moritz Baßler hat gezeigt, dass die Beschreibungen exzessiver Kriegsgewalt in der Lyrik des Barock insofern nicht als mimetische Abbildung entsprechender Mengen ‚realer’ Gewaltausübung zu betrachten sind, als sich das ihnen zu Grunde liegende Stilmittel der Amplifikation auch in lyrischen Texten findet, die Gewalt gar nicht thematisieren. Mithin erscheint, anders als sich gerade im Falle intensivierter Gewaltausübung des Dreißigjährigen Krieges vermuten ließe, die Wahl der rhetorischen Beschreibungsmittel dem beschriebenen Gegenstand nicht nach-, sondern vorgängig. [46]
Die Ordnung des Textes erscheint als Teil einer Ordnung des Kosmos, der Soziales und Religiöses umfasste. Und so war das Aufschreiben der Störung dieser Ordnung eine Möglichkeit, Ordnung zu schaffen: eine Ordnung des Amtes und der Erinnerung. Für die Ordnung der eigenen Person heißt das: Gewaltbeschreibungen wie die Chronik Volkmar Happes geben nicht Einblick in mit dieser Gewalt verbundene persönliche Empfindungen; vielmehr geben sie Aufschluss über die besonderen historisch-kulturellen Möglichkeiten und Funktionen, persönliche Empfindungen zu beschreiben. Damit erscheinen die Gewaltsamkeiten des Dreißigjährigen Krieges hier auch nicht als äußere Hindernisse für „einen schreibenden Rückzug nach innen“, als Ablenkung „von der eigenen Person“: als Ursache dafür, dass bei aller Intensivierung frühneuzeitlicher Textproduktion „die Anteile von Ich hinter denen von Welt zurücktreten“.[47] Sie erscheinen vielmehr als Konstitutionsbedingungen anderer Vorstellungen von Person – einer Personvorstellung, die noch nicht auf einer von der Welt abgetrennten Innerlichkeit des Ich basierte. Diesen Vorstellungen werden weitere Forschungsbemühungen zu gelten haben.[48]
Für die vorliegende digitale Edition wurde der transkribierte Text mit einer Sach-, Sprach- und Personenkommentierung sowie mit einem textkritischen Apparat versehen. Diese Kommentierungen können im Text über Hyperlinks aufgerufen werden. Ausnahmen bilden lediglich die Begriffe wie „anno eodem“ und „eodem die“, die nicht bei ihrem jeweiligen Erscheinen im Text, sondern allein an dieser Stelle erläutert werden. Über diese Kommentierungen hinaus hat der Text einen Ortsindex erhalten, der es erlaubt, die angegebenen Orte zu einer digitalen Karte zu verarbeiten. Diese Karte bildet den geographischen Wahrnehmungshorizont Happes sowie die regionale Verteilung und Dichte der von ihm beschriebenen Gewaltereignisse ab. Um diese Karte erstellen zu können, sind die historischen Bezeichnungen der Orte (nicht der Territorien) nach Möglichkeit in die heutige Namensgebung übersetzt worden.
Da es das digitale Reproduktionsverfahren erlaubt, neben dem transkribierten Text ein Faksimile des Originalmanuskripts zur Verfügung zu stellen, sind neben der Aktualisierung der Ortsnamen weitere sprachliche Modernisierungen vorgenommen worden, um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen. Folgende Richtlinien wurden dabei zu Grunde gelegt:
Happe verzeichnet lokale Vorkommnisse generell im Stil des alten Julianischen Kalenders (stylus vetus). Lediglich Ereignisse der großen Politik werden zusätzlich auch nach dem neuen Stil des Gregorianischen Kalenders (stylus novus) notiert, der 1582 von Papst Gregor XIII. eingeführt worden war, jedoch von den meisten Protestanten lange nicht übernommen wurde. In diesem Fall wird dies von Happe ausdrücklich gekennzeichnet. Im Kommentarteil der Edition wird grundsätzlich der neue Stil verwandt. Beide Datierungen werden nur in denjenigen Fällen angegeben, in denen dies für das Verständnis unerlässlich ist.
Angesichts des großen Umfangs der vorliegenden Chronik sowie angesichts praktischer Schwierigkeiten und Verzögerungen im Prozess der Bearbeitung können vereinzelte Fehler in der Transkription sowie in der sprachlichen Modernisierung nicht ausgeschlossen werden. Das digitale Editionsverfahren ermöglicht es jedoch, den Text dessen ungeachtet bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem interessierten Publikum zugänglich zu machen, insofern es durch die digitale Reproduktion des Originalmanuskripts Transparenz erhält und nachträgliche Korrekturen sowie Ergänzungen in der Kommentierung erlaubt. Die Herausgeber begreifen diese Edition mithin nicht als ein endgültig abgeschlossenes Projekt, sondern verbinden ihre Präsentation mit der Aufforderung zu konstruktiven Hinweisen.
[1] Volkmar Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 24v. Auf den Seiten des Manuskripts selbst findet sich kein kompletter Werktitel, lediglich auf der Rückenbeschilderung der beiden Quartbände ist er jeweils mit „Chronic: Thvring:“ abgekürzt. Ende des ersten Teiles der Handschrift jedoch findet sich die Genetivbildung „Chronici“. Vor diesem Hintergrund ist es am plausibelsten, als Werktitel „Chronicon Thuringiae“ anzunehmen (weniger wahrscheinlich sind „Chronicum“ als Nominativ sowie „Thuringense“ und „Thuringorum“ als Attribute). Vgl. dazu unten Anm. 8 und Abschnitt 5.
[2] Der Komet wurde bis zum Frühjahr 1619 beobachtet.
[3] Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Ms. Bud. q. 17-18.
[4] Vgl. Hermann Gresky, Volkmar Happe, der unbekannte Chronist von Nordthüringen und sein Werk, in: Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat 5/12. 1936 S. 583-585; in längerer Fassung: Volkmar Happe als unbekannter heimatlicher Chronist des Dreißigjährigen Krieges, in: Mühlhäuser Heimatblätter. Beilage zum Mühlhäuser Anzeiger 1936 Nr. 4. Der Hinweis auf die Vererbungslehre findet sich in einer im Arnstädter Anzeiger von 1936 abgedruckten Version von Greskys Text, zit. nach der Einleitung zu Köhlers Typoskript, S. 11.
[5] Vgl. Karl Köhler, Beiträge zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in Nordthüringen. Kriegsschicksale der gräflichen Unterherrschaft Schwarzburg=Sondershausen und ihrer Randgebiete 1630-1632 unter besonderer Berücksichtigung der Truppenbewegungen (Mitteilungen des Vereins für deutsche Geschichts- und Altertumskunde in Sondershausen 9). Sondershausen 1937, passim, insbes. S. 93.
[7] Vgl. Wolfgang Huschke, Die Happesche Chronik als genealogische Quelle, in: Mitteldeutsche Familienkunde 27/8/2. 1986 S. 257-281.
[8] Dort wird der Text als „Chronica Thuringia“ tituliert. Dieser Titel ist zum einen grammatikalisch falsch (korrekt wäre entweder „Chronica Thuringiae“ oder „Chronica Thuringica“), zum anderen entspricht er nicht Happes Sprachgebrauch im Text. Vgl. dazu oben Anm. 1 und unten Abschnitt 5. – Weiteres Interesse an der Chronik bezeugten zwei in die Manuskriptbände eingeklebte Benutzerlisten, die die Namen zahlreicher thüringischer Heimat- und Landesgeschichtsforscher aufwiesen. Vgl. dazu unten Abschnitt 5.
[9] Näheres zu den Editions- und Modernisierungskriterien unten in Abschnitt 4, zur digitalen Karte in Abschnitt 4 und 6.
[10] Die Landesherrschaft Schwarzburg-Sondershausen gliederte sich in die Oberherrschaft (Rudolstadt, Königsee, Schwarzburg, Gehren, Arnstadt) und in die Unterherrschaft (Sondershausen, Ebeleben, Frankenhausen). Die Trennung in Ober- und Unterherrschaft bezeichnet keine Lehnsabhängigkeiten, sondern ist eine regionale Aufteilung.
[12] Vgl. ebd. S. 261.
[13] Vgl. ebd. S. 261 f.
[16] Für Quellenhinweise vgl. Köhler, Beiträge (wie Anm. 5) S. 56 f., 69, 73 f., 77, 109; darüber hinaus Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 371v-372r, 377v, 384r.
[17] Richtungweisend waren und sind hier die Arbeiten Michel Foucaults, insbes.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1974.
[18] Weitere Belege: Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 24r, 32r, 65v, 71r, 81v, 83v, 103r, 263r, 337v, 366v; T. II Bl. 3r, 15r, 46r, 84v, 99v, 121v, 166r, 304r, 429v, 444r.
[23] Zur obrigkeitlichen Sanktionierung von Verbrechen vgl. ebd. T. I Bl. 175r, 184v, 193r, 198v, 199v, 249v, 252r/v, 257r/v, 370r, 374v, 376v-377r.
[24] Vgl. dazu Benigna von Krusenstjern, Buchhalter ihres Lebens. Über Selbstzeugnisse aus dem 17. Jahrhundert, in: Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. Klaus Arnold u. a. Bochum 1999 S. 139-146, hier 139.
[25] Vgl. Benigna von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis (Selbstzeugnisse der Neuzeit 6). Berlin 1997, zu Happes Chronik: S. 111 f.
[26] Dies zeigt auch der Umstand, dass dieser Krieg bereits von den Zeitgenossen als ein „Dreißigjähriger“ bezeichnet und erinnert wurde – nicht allein in der zeitgenössischen politischen Pamphletliteratur (vgl. Konrad Repgen, Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges: Begriff und Konzeption, in: Krieg und Politik 1618-1648. Europäische Probleme und Perspektiven. Hg. ders. [Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 8]. München 1988 S. 1-84, hier 6 f.), sondern auch in Selbstbeschreibungen (vgl. Hans Medick/Benigna von Krusenstjern, Einleitung: Die Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Hg. dies. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 148). Göttingen 22001 S. 13-36, hier 30).
[27] Weitere Vorzeichen: Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 184v, 190r, 307v, 349v-350r, 364v-365r; T. II Bl. 19r, 325r, 326v. Vgl. dazu auch unten Anm. 39.
[39] Dies gilt auch dort, wo keine Gewissheit herrschte, ob ein Ereignis als göttliches Zeichen zu interpretieren war und was es ggf. verkündigte. Abgesehen vom eingangs zitierten Kometen von 1618 vermerkt Happe außergewöhnliche Naturerscheinungen in der Regel, ohne ihnen eine konkrete Bedeutung zuzuschreiben (vgl. etwa T. I Bl. 184v, T. II Bl. 19r, 325r, 326v); zuweilen werden sie nicht einmal ausdrücklich als göttliche Prodigien bezeichnet (vgl. T. I Bl. 307v). Dass sie jedoch überhaupt notiert werden, zeigt, dass Happe eine Bedeutung vermutete. Um Gewissheit über diese Bedeutung zu erlangen, war das Ereignis festzuhalten und der weitere Verlauf der Dinge abzuwarten. Eine Ausnahme stellen die gehäuften „Kriegs Pressuren“ Anfang Dezember 1634 dar: Sie schienen dem Verfasser ein „Zeichen, dass unsere Erlösung durch die Zukunft Jesu Christi nahe sey“ (T. I Bl. 348v/349r).
[40] Dies zeigt sich besonders deutlich in den zeitgenössischen Vorstellungen von der Entstehung der oben erwähnten Ungarischen Krankheit. Vgl. dazu Andreas Bähr, Die Semantik der Ungarischen Krankheit. Imaginationen von Gewalt als Krankheitsursache zwischen Reformation und Aufklärung, in: Gewalt in der Frühen Neuzeit. Hg. Claudia Ulbrich/Claudia Jarzebowski/Michaela Hohkamp (Historische Forschungen 81). Berlin 2005 S. 359-373.
[41] So legten auch andere Ämter Berichte über die im Amtsbereich erlittenen Schäden vor, insbesondere über die Diebstähle und Verluste der für die Bauern so lebensnotwendigen Pferde (vgl. Köhler, Beiträge [wie Anm. 5] S. 45, 55 f.).
[42] Vgl. dazu die für die Frühe Neuzeit grundlegenden Traumbücher von Girolamo Cardano, Traumbuch: Wahrhafftige / gewüsse, vnd vnbetrügliche vnderweisung / wie allerhandt Træum / Erscheinungen vnnd Næchtliche gesicht / welche vns von der seelen / wann sich der leib zů růwen begeben / eingebildet und fürbracht werden / wie solche natürlich vnnd recht erklært vnnd außgelegt werden sollend / dardurch künfftige zůfæl glücks vnnd vnglücks erfaren vnd erlernet werden mœgen […]. Basel 1563; Cunrad Dieterich, Philosophischer vnd Theologischer Traum Discurß / Von den Nächtlichen Träumen […]. Ulm 1625; Johann Christoph Männling, Außerlesenster Curiositaeten Merck=wuerdiger Traum=Tempel Nebst seinen Denckwuerdigen Neben=Zimmern. Frankfurt/Leipzig 1714. Einen Überblick über die Geschichte des Traums in der Frühen Neuzeit bieten Peter André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, insbes. Teil I; Stefan Niessen, Traum und Realität. Ihre neuzeitliche Trennung. Würzburg 1993.
[43] Vgl. Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung (De vita propria, 1642). Übers. Hermann Hefele. (Jena 1914) München 1969 S. 204 f.; ders., Traumbuch (wie Anm. 42) Buch II; Dieterich, Traum-Discurß (wie Anm. 42) S. 105 ff.
[46] Vgl. Moritz Baßler, Zur Sprache der Gewalt in der Lyrik des deutschen Barock, in: Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. Markus Meumann/Dirk Niefanger. Göttingen 1997 S. 125-144.
[48] Diese Fragen verfolgt ein Projekt, das der Verfasser im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ an der Freien Universität Berlin bearbeitet.