Diese emphatische zurückblickende Bemerkung, in der die Schrecken und Gewalterlebnisse des Dreißigjährigen Krieges als persönliche Erfahrung am eigenen Ort im Jahr 1640 zusammengefasst werden, findet sich als Randnotiz zum Haupttext des Selbstzeugnisses Chronicon Thuringiae, das der Thüringische Hofrat Volkmar Happe zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges erstmals niedergeschrieben hat.[1] Sollte der „Autor“ Happe den Satz verfasst haben, so dürfte er ihn bald nach 1640 in der kleinen Thüringischen Residenzstadt Sondershausen niedergeschrieben haben, ursprünglich allerdings keineswegs als Randnotiz zu seinem eigenen Selbstzeugnis.[2] Denn der Satz wurde seinem Zeugnis erst mehr als ein halbes Jahrhundert später von einem anderen Schreiber hinzugefügt und Happe als „Autor“ zugeschrieben. Bei diesem Schreiber dürfte es sich um den gemeinschaftlichen Archivar aller gräflichen Linien des Hauses Schwarzburg, den Sekretär Christian Friedrich Ruhe gehandelt haben, der 1710 in sein Amt eingesetzt wurde und es bis 1733 versah.[3] Entgegen manchen Annahmen früherer, aber auch noch neuerer Forschung[4] dürfte er es gewesen sein, der den einzig bekannten, handschriftlich überlieferten Text der Chronik zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Abschrift eines älteren Originals von einem professionellen Schreiber hat anfertigen lassen und nach der Abschrift mit eigenen sachkundigen Korrekturen und vereinzelten Anmerkungen versehen hat.[5]
Mit dem kommentierenden und pointierenden Kernsatz am Rande von Blatt 354v des Chronicon Thuringiae sollte, gleichsam in Form eines „Hypertextes“, ein Doppeltes bezweckt werden. Volkmar Happe sollte sowohl als „Autor“ des Selbstzeugnistextes wie im Rückblick auch als Mit- Erleidender einer außerordentlichen Erfahrung in den Vordergrund gerückt werden: der Erfahrung der Raub- und Plünderungszüge des Sommers 1640, durch die sein eigener Wohn- und Dienstort, die thüringische Residenzstadt Sondershausen, für den „Autor“ zu einem zentralen Ort beobachteter und erlittener Gewalt, eben zu „Schindershausen“ geworden war. Wenn nicht auf der Flucht oder in kriegsbedingten Dienstgeschäften abwesend, erlebte Happe diese Gewaltaktionen des Jahres 1640 in der Stadt Sondershausen und deren Umland und protokollierte sie kurz darauf. In diesen Passagen verfuhr er ebenso akribisch genau und beamtenhaft wie mit der Protokollierung tausender anderer Gewaltaktionen, die er in den zweiundzwanzig vorhergehenden Jahren – seit Beginn des großen Krieges – entweder persönlich erlebt hatte oder von denen er qua Amt und als interessierter Zeitzeuge gehört oder auch gelesen hatte.
Das mit 921 Blatt bzw. 1841 beschriebenen Seiten sehr umfangreiche Selbstzeugnis des Volkmar Happe, dessen Eintragungen vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Jahres 1643 reichen[6], ist deshalb sowohl ein Amtsprotokoll der Gewalt als auch ein persönlicher Lebensbericht. Dies schlägt sich schon in der formalen und inhaltlichen Aufteilung des Gesamttextes nieder. Er umfasst auf den ersten 50 Seiten[7] einen als „Genealogia Happiana“ überschriebenen Einleitungsteil, sodann einen Hauptteil, in dem der Autor zwar überwiegend „Acta“, d.h. aufschreibenswerte Handlungen anderer und Geschehnisse der Zeit beschreibt, in denen er sich als Person aber keineswegs gänzlich zurücknimmt. Denn er beschreibt häufig „Acta“, die ihm selbst als Zeitgenossen widerfuhren und in die er als Handelnder wie als Leidender direkt einbezogen war.
Bemerkenswert ist, dass Happe im ersten Teil der Chronik seinen eigenen „cursus vitae“ darstellt. Dabei positioniert er seine Biographie in die Abstammungsfolge seiner Vorfahren und in die Netze seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zum Thüringischen städtischen Amtsbürgertum, soweit sie durch seine und seiner Geschwister Heirats- und Patenschaftsbeziehungen und diejenigen der Geschwister mütterlicher- und väterlicherseits gegeben waren. „Der vierdte Sohn [des Volkmar Happe senior] bin ich, Volkmar Happe junior. Mein cursum vitae will ich unten beschreiben.“[8] Diese Verwandtschafts-persona des am 15.11.1587 in der Stadt Greußen als Sohn eines Ratsherrn, Bürgermeisters, Ackerbauern sowie Tuch- und Waidhändlers geborenen Volkmar Happe steht in seinem „cursus vitae“ jedoch nicht ausschließlich im Vordergrund. Sie wird nach der Darstellung seiner Schulzeit am Gymnasium Illustre in Gotha und seiner Studienzeit an den Universitäten Tübingen, Straßburg, Altdorf und Jena zunehmend von seiner Amtsbiographie überlagert, in der Happe sich als politische persona im Dienste seiner Landesherren darstellt. Sie umfasst die unterschiedlichen Stationen seiner Ämter, von seiner Ernennung als Amtsschösser der Grafen von Schwarzburg–Sondershausen in den Ämtern Ebeleben und Keula (mit dem Wohnsitz in Keula) am 3. November 1619, über die Ernennung als Hofrat des Grafen Christian Günther im Schloss Ebeleben am 13. Oktober 1623 und dem Umzug mit der Herrschaft in gleicher Funktion nach Sondershausen im Jahr 1638 bis zur Ernennung als Kanzler und Vorsitzender des Konsistoriums der Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen zu Beginn des Jahres 1643.[9] Auffällig ist in allen Selbstbeschreibungen der unterschiedlichen Stufen dieser Karriereleiter weniger die Berufung auf eigene Verdienste als vielmehr auf göttliche Fügung, Schutz und Schickung.
„Anno 1619 bin ich durch Schickunge des Allmächtigen Gottes von Meinen gnädigen Herrn, den Grafen zu Schwartzburg-Hohenstein, in das Ambt Keula und Ebeleben zum Ambtsschösser angenommen worden, bin anno eodem den 3. November introduciret worden und folgends mit Weib und Kind im Nahmen Gottes nach Keula gezogen. Ob nun wohl in den gefährlichen, bösen Krieges Läuften ich eine gefährlich, schwere Zeit gehabt, so hat mich doch mein gnädiger Gott allezeit genädig geschützet in aller Gefahr, mit seinem starcken Arm erhalten und aus aller Noth und Gefahr errettet. Was ich vor Unfall ausgestanden, ist aus den folgenden actis in diesem Buch zu ersehen […].“[10]
In eins mit der Amtsperson tritt schon im „cursus vitae“ und ebenso ausgeprägt im übrigen Teil des Chronicon eine religiöse persona hervor. Für sie ist das Vertrauen zu Gott, „an demich klebe wie eine Klette am Kleide“[11], und zu Gottes wunderbaren Fügungen sowie zur lutherischen Religion entscheidend. Dieses Vertrauen in die göttliche „Providenz“ brachte bei Happe ein Selbstbewusstsein und bürgerlichen „Eigensinn“ als „Gottessinn“ hervor. Diese Rückversicherung der bürgerlichen Existenz in Gott bedeutete ihm offensichtlich mehr als etwa die Zugehörigkeit zum erlesenen Kreis der in höfische Ämter berufenen oberen Staatsdiener, mit denen er nahezu täglich verkehrte.
An das Ende seines „cursus vitae“ stellt Happe in Form einer gleichnishaften Erzählung eine Warnung seines eigenen Vaters vor dem Hofleben. Diese Erzählung handelt von zwei Brüdern, von denen der eine als Hofrat den anderen als schlichten Bürger mit den Verlockungen besserer „Speisen“ an den Hof zu ziehen versucht: Die Antwort des Bruders an den Bruder bei Hofe macht sich Happe als “Schluß“-folgerung und gleichsam als letztes Wort aus dem Vermächtnis seines Vaters und gleichzeitig als Zeugnis seiner eigenen persönlichen „Erfahrungen“ zu eigen:
„Lieber Bruder, ich will lieber mit dieser geringen Speise in Freyheit vorlieb nehmen und Gott darbey loben und preisen, als zu Hofe ein Knecht und schendlicher Mamelucke werden, der denen Herren wieder Gott und Recht mit seinem ewigen Verderben nur nach dem Maule reden muss.
Hofbisslein sind Höllenküchlein und sind alle mit zeitlichem und ewigen Verderben überzuckert. Ich als ein junger Mensch“, fügt Happe als Selbstbekenntnis hinzu, „in Bauer- und Bürgerstande erzogen, wusste dahmals [nicht] viel, was es war. Nachdem mich [sic] aber durch Gottes Schickunge folgends nach Hofe kommen und die Gottlosigkeit zur Genüge erfahren [habe], wünsche ich von Hertzen, dass es niemahls darzu kommen wäre. Gott, der liebe Gott, bringe mich zu einem ehrlichen Schluss umb Jesu Christi willen, Amen, Amen, Amen.“[12]
Wie wirken sich diese Selbsteinordnungen Happes als verwandtschaftlich orientierte und bestimmte Person, als Amtsperson und als lutherischer homo religiosus in seinen Wahrnehmungen der Gewalthandlungen aus, die in seiner Chronik protokolliert sind und in den Darstellungen dieses „Buches“[13] insgesamt den meisten Platz beanspruchen? Wie – so sollte im Blick auf unsere Problemstellung gefragt werden – war Happes Gewaltwahrnehmung räumlich strukturiert und in welcher Beziehung stand sie zu seiner persona und zu seinen Erfahrungen im Krieg?
Zunächst soll ein Blick auf das Zeugnis Happes mit den Erkenntnismitteln der historischen Geographie gerichtet werden. Dann sollen aufgrund einiger Beispiele charakteristische Selbstverortungen untersucht werden, in denen die Gewaltbeschreibungen Happes ein für die europäischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts kilo-metrisch geprägtes Raumschema von Nähe und Distanz teilweise durchbrechen. Auf diese Weise sollen spezifische Konstruktionen des Räumlichen erschlossen werden, die für einen Menschen des 17. Jahrhunderts selbstverständliche Denkvoraussetzungen und Vorstellungswerkzeuge (outillages mentales)[14] waren, die sich in der Krisen- und Transformationszeit des Dreißigjährigen Krieges zugleich aber nicht als unwandelbar erwiesen, sondern einem kriegsbedingten „Erfahrungswandel“[15] unterworfen waren. Gerade hierdurch bestätigen sie Robert Mandrous Einsicht vom Raum als „une construction de l’esprit“[16], mit der er die Erforschung des Räumlichen in der Historischen Anthropologie eingeleitet und die räumlichen Wahrnehmungsweisen der vormodernen Frühen Neuzeit charakterisiert hat, ohne dass dies jedoch unmittelbare Nachwirkungen in den Arbeiten anderer Historiker hatte.
Eine erste Karte (Karte A) veranschaulicht die komplizierte und verschachtelte politische Geographie Mitteldeutschlands um das Jahr 1620, also zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges und des Hauptteils der Happeschen Chronik.
Das braun eingefärbte Territorium der Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen mit ihren Residenzorten Ebeleben und Sondershausen und dem Amtsort Keula zeigt das Herrschaftsgebiet, in dem Happe während der Zeit der Abfassung seiner Chronik Ämter ausübte, zunächst in Keula, dann in Ebeleben und schließlich in Sondershausen. Dieses Territorium war Teil der Gesamtherrschaft der Grafen von Schwarzburg. Deren andere Teile waren die Oberherrschaft Schwarzburg-Sondershausen mit der Residenz Arnstadt und das Gebiet der Unter- und Oberherrschaft der Linie Schwarzburg-Rudolstadt, mit den Residenzen Frankenhausen und Rudolstadt (hellbraun). Wichtige Territorien der Nachbarschaft waren im Süden der thüringische Teil Kursachsens, das somit weit nach Westen reichte (grün), mit dem Amtsort Langensalza sowie das Territorium der freien Reichsstadt Mühlhausen und das Gebiet der unter kurmainzischer Oberherrschaft stehenden, doch über beträchtliche weltliche und konfessionelle Eigenmacht verfügenden Stadt Erfurt. Ebenfalls kurmainzisch beherrscht und auch konfessionell von der Herrschaft der Erzbischöfe von Mainz geprägt war das Gebiet des katholischen Eichsfelds (violett, im Westen). Auch die welfischen Territorien des Fürstentums Lüneburg-Braunschweig-Wolfenbüttel (gelb) sowie das konfessionell wie landesherrschaftlich heftig umstrittene Territorium des Erzstifts Magdeburg (blau violett) reichten verhältnismäßig nahe an das Schwarzburg-Sondershausensche Gebiet heran.
Die von Braunschweig-Wolfenbüttel seit 1593 besetzte Herrschaft Hohenstein war zwischen den Welfen und den Grafen von Schwarzburg umstritten. 1632 wurde die Herrschaft in einem Vergleich geteilt.
Eine zweite Karte (Karte B) versucht mithilfe eines Säulendiagramms diejenigen Orte aufzuzeigen, die in Happes Text in unterschiedlicher Häufigkeit erwähnt werden, sei es als Ereignisorte eines zumeist gewalthaften Geschehens oder als Aufenthaltsorte Happes, seiner Kollegen oder auch seiner Landesherren auf ihren zahlreichen Reisen und Fluchten. Auffällig, aber nicht überraschend ist die Zentrierung der Ortswahrnehmungen der Chronik auf die Orte der Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen mit ihren Hauptorten Ebeleben, Keula, Greußen und Sondershausen sowie außerhalb dieses Territoriums auf die Reichsstadt Mühlhausen und die Stadt Erfurt. Wenn Happe in seiner Chronik von der „Grafschaft Schwarzburg“[19] oder auch der „Herrschaft Schwarzburg“[20] oder der „hiesigen Herrschaft“[21] sprach und schrieb, so war damit in der Regel keineswegs die Gesamtheit der Territorien der unterschiedlichen gräflich Schwarzburgischen Linien gemeint, sondern seine „eigene“ Grafschaft, d.h. die Unterherrschaft Schwarzburg Sondershausen. „Den 21. und 22. Mai [1626] nichts hierumb [d.h. um Ebeleben, H.M.] und in der gantzen Grafschaft Schwartzburg als Jammer, Elend, Hunger, Kummer, Placken, Plündern, Rauben, Stehlen, Schätzen.“[22] Auch wenn er häufig aus einer lokalen Beobachtungsperspektive schrieb, oft aus derjenigen der Amtsorte, an denen er sich aufhielt, z.B. „allhier zu Ebeleben“[23], war sein primärer Wahrnehmungshorizont doch an den Grenzen des Territoriums seiner Herrschaft Schwarzburg-Sondershausen ausgerichtet. Für diese „Herrschaft“ trug er zunächst als Amtsschösser, später als Hofrat vor allem in der Aushandlung und Umverteilung und Bewältigung immer wiederkehrender neuer Kriegslasten Verantwortung. Er brachte dies dadurch zum Ausdruck, dass er in diesen Zusammenhängen häufig in einer personalisierenden und zugleich amtlich verallgemeinernden „Wir“-Form schrieb. „Wir haben aber täglich aus hiesiger Herrschaft viel Proviant nach Frankenhausen schaffen müssen.“[24] Die befestigten Städte Mühlhausen und Erfurt waren als Flucht- und zeitweilige Aufenthaltsorte sowie als Anlaufstellen bei zahlreichen Verhandlungen, etwa mit den schwedischen oder kaiserlichen Militärkommandanten, wichtige Bezugspunkte außerhalb der eigenen Grafschaft. In nahezu gleichem Maße galt das auch für die Städte Nordhausen, Frankenhausen und Arnstadt, letztere Amtssitz eines anderen Schwarzburgischen Familienzweigs.
Happes primäre Aufmerksamkeit, so lässt sich schlussfolgern, war auf das Territorium seiner Herrschaft und die in diesem Gebiet liegenden Orte gerichtet und darüber hinaus vor allem auf Thüringen. Thüringen insgesamt macht einen häufigen Referenzraum für seine Darstellungen von Kriegsgewalt aus, vor allem, wenn es galt, in Monats- oder Jahresrückblicken die Vielzahl einzelner Gewaltakte zu bilanzieren und zu bewerten. Wenn Happe in diesen Zusammenhängen davon schrieb, dass „An allen Orthen der Welt nichts als Krieg und Kriegs Geschrey“[25] herrsche, so meinte er damit keineswegs die Welt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation oder gar die in seiner Zeit ins Bewusstsein tretenden globalen Weltzusammenhänge, sondern primär seine thüringische Welt. Diese war Happes „Welt“. Seine Wahrnehmung dieses Welt-Raumes war keineswegs nur durch seine eigene Ortskenntnis geprägt. Sie war in hohem Maße konfessionell-religiös aufgeladen. Den Verdunkelungen „an der lutherischen Sonnen in Thüringen“ durch die „spanische ecclipsis“[26] d.h. durch die „Sonnenfinsternis“, wie sie durch die Verheerungen der katholisch-habsburgischen Kriegsgewalt gebracht wurde, galt seine Hauptaufmerksamkeit, zumindest in den Anfangsphasen des Krieges bis zur Desillusionierung durch die schwedische militärische Gewaltherrschaft.
Auffällig sind jedoch auch die häufigsten örtlichen Wahrnehmungspunkte außerhalb dieser thüringischen Zentralregion. Sie betreffen Orte, an denen sich Happe zwar nicht aufhielt, auf die sich aber seine Aufmerksamkeit wiederholt richtete. Hier ist besonders hervorstechend, dass diese Orte nahezu ausschließlich im Norden, Nordosten und Nordwesten seiner primären thüringischen Bezugsregion liegen. Braunschweig, Wolfenbüttel, Halle und Magdeburg waren neben Göttingen und Northeim diejenigen Orte in nichtthüringischen Territorien, die Happe am häufigsten erwähnt.
Ein genauerer Blick auf Happes eigene Grafschaft lässt noch einmal die besondere lokal-regionale Konzentration der Aufmerksamkeit Happes auf diejenigen Orte der Grafschaft Sondershausen deutlich werden, die in den Tätigkeitsbereich seiner Ämter als Amtsschösser in Keula sowie als Hofrat in Ebeleben und Sondershausen fallen. Bemerkenswert ist der leere Zwischenraum zwischen dem südlichen Teil und dem nördlichen Teil der Unterherrschaft Schwarzburg-Sondershausen mit den jeweiligen Residenzorten Ebeleben und Sondershausen. Diese „Leere“ ist darauf zurückzuführen, dass sich im 17. Jahrhundert zwischen beiden Teilen der Grafschaft das schwer zugängliche und kaum besiedelte Waldgebiet der Hainleite erstreckte. Es stellte zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges nicht nur ein erhebliches Kommunikationshindernis zwischen beiden Teilen der Unterherrschaft dar, sondern diente auch als schwer kontrollierbare Ausgangs- und Rückzugbasis für marodierende Truppenteile sowie als zeitweilige Fluchtmöglichkeit für die ländliche Bevölkerung. Der Weg von Ebeleben nach Sondershausen mag deshalb in den Maßstäben heutiger kilo-metrischer Entfernungsmessung zwar nur kurze 13 Kilometer betragen, doch war er unter den Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges außerordentlich weit und beschwerlich, dies nicht zuletzt deshalb, weil er so unsicher war.
„Summa, es ist ein überaus großer Jammer, der nicht zu beschreiben [ist], hierumb gewesen. Ich saß im Amte Keula mitten unter dem Krieges Volcke, auf beyden Seiten hatte ich die sehr mächtigen Armee des Tylli und Halberstädtisch, uf der andern des niedersächsischen Kreyses Volck, auf der 3. Seiten das chursächsische und Meines Gnädigen Herrn [Kriegsvolk], auch der Städte Volck. Wann ich zum Fenster hinaus sahe, so branten etzliche Dörfer und liefen die armen Leuthe von Eichsfeld haufenweise nach Keula. Mein Weib und Kind schicke ich in dieser betrübten Zeit nacher Greußen und bliebe ich bey den Stationen alleine.“[27]
Dieser Blick aus seiner Amts- und Schreibstube eröffnete sich Happe Anfang Juli 1623 in der Anfangsphase des Krieges. Happe beschreibt eine Situation, in der die Kriegsgewalt vor seinem Fenster angekommen ist, aber zugleich doch vorüberzieht. Truppenteile des bayrisch-katholischen Ligaheeres unter Tilly ziehen plündernd und marodierend am Rand seines Amtsbezirks vorbei und verfolgen das Heer des protestantischen Söldnerführers und weltlichen Administrators des Bistums Halberstadt, Herzog Christian von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel. Auf der dritten Seite neben diesen Kriegsparteien, aber ohne in den Krieg selbst einzugreifen, gruppieren sich einheimische Truppen des Landesherrn im Bündnis mit denen Kursachsens, des Niedersächsischen Kreises und der großen Städte der Nachbarschaft.
Happe verortet sich in dieser Situation als Zuschauer und mittelbar Betroffener. Er hat seine Familie in seine Geburtsstadt Greußen evakuiert und bleibt allein auf seinem Amtsposten „mitten unter dem Krieges Volcke“. Hier beobachtet er die Wirkungen der Kriegsgewalt in den brennenden Nachbardörfern von Keula und in der Fluchtbewegung der Bewohner des katholischen Eichsfelds in sein eigenes Amt. Aber die Gewalt selbst ist ihm noch nicht auf den Leib und bis ins eigene Haus gerückt, obwohl dies stündlich zu erwarten ist. Angesichts der Plünderung eines Adelshofs und des dazugehörigen Dorfes in der unmittelbaren Nachbarschaft, der Erschießung eines Mannes und des Versuchs, das Dorf in Brand zu setzen, das, wie er schreibt, „eine halbe Meile von Keula“ [28] liegt, heißt es: „Wie mir bei diesem Handel zu Keula [d.h. auf seinem Beobachtungsposten, H.M.] zu Muhte gewesen, ist leichtlich zu ermessen, denn ich dergleichen Einfall auch stündlichen zu warten gehabt.“[29]
Aber die Nähe der Gewalt und der Gewalterwartung wurde in Happes Wahrnehmungshorizont nicht nur mit räumlichen Entfernungsmaßstäben gemessen. Das Sehen kam als häufig angeführte primäre Beglaubigungsinstanz dazu und daneben auch das Hören. Das Hören diente ihm zur primären Zeugenschaft, selbst dann, wenn das Gewaltereignis aufgrund seiner realen Entfernung vom Wahrnehmungspunkt aus unhörbar gewesen sein dürfte. So heißt es etwa bei der Schilderung der Belagerung durch kaiserlich-katholische Truppen und tapferen Gegenwehr der westlich des Harzes – in 69 km Entfernung – gelegenen protestantischen Stadt Northeim im Jahr 1627: „Das Schießen hat man allhier zu Ebeleben hören können.“[30]
Sehr wahrscheinlich war also der Horizont der Gewaltwahrnehmung Happes im Falle der sich ritterlich verteidigenden Stadt Northeim auch durch eine religiös-konfessionell aufgeladene „mental map“ geprägt. In ihr konnten auch sehr große räumliche Distanzen aufgrund konfessioneller Verwandtschaft und Sympathie zu „nahen“ Entfernungen in einem gemeinsamen konfessionellen Raum zusammenschrumpfen. Denn die „Verdunkelungen der Lutherischen Sonne“ fanden ja keineswegs nur in Thüringen statt. Eine 111 km entfernte Stadt wie Magdeburg dürfte auch für Happe als „Wittemberg des Nordens“[31] gegolten haben. Mit großer Aufmerksamkeit und Teilnahme beschrieb er ihre wiederholten Belagerungen und ihre schließliche Zerstörung im Mai 1631. Schon vorher jedoch, im September 1629, konstatiert er bei einer neuen Belagerung durch kaiserliche Truppen die Verflochtenheit und große Nähe dieser doch mindestens zwei bis drei Tagesreisen entfernten Stadt: „Weil uns denn diese Stadt sehr nahe gelegen [ist], so haben wir uns dennhero allerhandt Beschwerunge zu befahren.“[32]
Einen außerordentlich interessanten Fall einer Position persönlicher Nähe zu einem entfernten Gewaltereignis bietet die Schlacht bei Lützen im November 1632. Happe war keineswegs unmittelbarer Zeuge dieser Entscheidungsschlacht des Dreißigjährigen Krieges, in der das schwedische Heer und seine Verbündeten zwar den Sieg über die von Wallenstein geführten kaiserlichen Truppen davon trugen, jedoch der Anführer der protestantischen Truppen, König Gustav Adolf, fiel. Happe selbst hielt sich in den Tagen vor, während und unmittelbar nach der Schlacht in Erfurt auf, der logistischen Basis des schwedischen Heeres in Mitteldeutschland, Aufmarschort der Truppen vor ihrem Zug nach Lützen und Aufenthaltsort der Gemahlin Gustav Adolfs zum Zeitpunkt der Schlacht am 6. November 1632. Sehr genau beschreibt Happe die Sammlung und den Aufmarsch der schwedischen Truppen vor der Schlacht und das Eintreffen der ersten Nachricht von ihrem Verlauf und Ausgang im 84 km, also zwei Tagesreisen, entfernten Lützen am 8. November in Erfurt. Auffällig ist, dass er dabei die Haltung des nüchtern darstellenden Chronisten verlässt zugunsten einer empathischen Teilnahme an dieser „bitteren Victorie“:
„Aber ach, leider, leider, der christlichste rittermestigste, dapferste König ist auch auf der Walstedt selbsten todt blieben, worüber die Freude, so wir wegen der herrlichen Victori sonsten gehabt hetten, sehr verbittert worden. Der glorwürdigste König hat als ein theurer Ritter Jesu Christi für Gottes Ehr und die teutsche Libertet sein Blut und Leben ritterlich zugesetzet.“[33]
Auffälligerweise ist die Schlachtbeschreibung Happes damit nicht zu Ende. Er beschreibt detailliert und gegenwartsnah „heute dato den 17. November“[34] sein persönliches Engagement als Amtmann in der Hilfeleistung für die in seine beiden Bezirke Ebeleben und Keula verbrachten sechsundzwanzig schwedischen Verwundeten der Schlacht und deren Einquartierung, darüber hinaus auch seine eigene Initiative zur Entsendung von zwei Transportwagen in die Nähe des Schlachtfelds, von Ebeleben ins 60 km entfernte Naumburg, um dort weitere verwundete Soldaten abzuholen.[35] Im Monatsrückblick am Ende des Monats November gibt er noch einmal eine ausführliche Würdigung der Ergebnisse der „greulichen blutigen Schlacht“ und ihrer getöteten Offiziere vor allem auf der kaiserlichen Seite.[36] Aber auch hiermit war Happes Schlachtbeschreibung nicht abgeschlossen. Ganz am Ende der Eintragungen des Jahres 1632 und bevor der fortlaufende Bericht der Chronik für mehr als ein Jahr aufhört, gibt er eine zweite, sehr viel ausführlichere Beschreibung der Schlacht aus seiner eigenen Nahperspektive als behaupteter Teilnehmer.
Diese dichte selbstzeugnishafte Beschreibung stammt jedoch nicht von Happe selbst. Sie stellt, ohne dass er dies kenntlich gemacht hätte, die nahezu wortwörtliche Übernahme – freilich mit einzelnen persönlich akzentuierenden Änderungen durch Happe (etwa wenn er ein „manauf unser[er] Seiten“ durch ein „wir“ ersetzt[37]) – von einem Autor im Umfeld der schwedischen Feldkanzlei dar, der seine „Warhaffte und eygentliche Relation von der blutigen Schlacht“[38] bereits Ende November 1632 in Erfurt publizierte. Es wäre nicht angemessen, hier von einem Plagiat zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um ein Beispiel identifikatorischer emphatischer Intertextualität – einen Fall von Selbstübersetzung in einen fremden Erfahrungstext hinein, um die eigene Selbstzeugenschaft dadurch zu steigern. Seine eigene ursprüngliche Beschreibung dieses den Teilnehmern und Zeitgenossen (im Unterschied zu späteren Historikern[39]) sehr bald als weltgeschichtlich entscheidend vorkommenden Ereignisses hat Happe offensichtlich nicht genügt. Denn trotz aller emphatisch geäußerten Teilnahme (die bereits in seiner ersten Beschreibung deutlich wird) blieb er auf eine Beobachterposition aus der Ferne und auf nachträgliche Hilfeleistungen beschränkt. So hat er sich das Kleid eines fremden Textes angezogen, ein nahezu wortwörtlich von ihm übernommenes Selbstzeugnis eines Schlachtteilnehmers. Damit hat er sich in die Nähe seines protestantischen Helden auf dem Schlachtfeld von Lützen imaginiert, um an des „höchstgepreisesten Königs Todt“[40] (aus „hochgepreiseten“ i.O.[41]) und „Victorie“ wenigstens in seinem „Buch“ persönlich teilzuhaben.
Diese religiöse Parteinahme für den glorreichen protestantischen Helden und seinen Sieg im Tod war weit entfernt von den Alltagserfahrungen physischer Gewalt und Attacke, die Happe selbst und seiner engeren Familie in Keula, Ebeleben, Greußen und Sondershausen in den späten 30er und 40er Jahren des 17. Jahrhunderts widerfuhren und die ihm seinen Wohn- und Dienstort Sondershausen am Ende als „Schindershausen“ erscheinen ließen.
Die weite Entfernung des Lützener Gewaltereignisses konnte von Happe wohl auch deshalb als nah empfunden werden, weil die religiöse Form der Gewalt zu diesem Zeitpunkt in seinen Augen noch glorreich überhöht und deshalb akzeptabel war. In Sondershausen und in anderen Orten seines Lebens und Überlebens dagegen kam ihm die „leibhaftige“, alltägliche Gewalt entgegen, die sich jeder glorreichen Überhöhung sperrte und von seinem Selbst trotz aller Nähe möglichst ferngehalten werden musste.
Es muss hier darauf verzichtet werden, die Vielzahl einzelner Gewaltepisoden zu untersuchen, von denen Happe berichtet. Stattdessen soll auf einen grundlegenden Wandel verwiesen werden, der sich in Happes Berichten über nahe und ferne Gewalt seit der Mitte der Dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts abzeichnete und der seinen Wahrnehmungshorizont grundlegend veränderte. 1634, am Ende eines Rückblicks auf den Monat Oktober, konnte er noch schreiben: „Obwohl die Krieges Gefahr uns gar vor die Thür kommen, die Unsrigen mit Feuer und Schwerdt zum greulichsten verfolget und hingerichtet worden, so hat uns doch Gott in Thüringen genedig und wunderlich erhalten.“[42] Doch veränderte sich diese Erwartung (ja fast Gewissheit) besonderen göttlichen Schutzes für Thüringen in den kommenden Monaten (November, Dezember) grundlegend unter dem Eindruck der in allernächster Nähe gemachten Gewalterfahrungen. Umstürzend angesichts der vielen von Happe berichteten und durch persönlichen Augenschein erfahrenen Plünderungen, Kontributionsabschöpfungen, Tötungen und Vergewaltigungen war die Erfahrung einer gleichsamen Inversion der Gewalt: Gerade die Durchzüge, Einquartierungen und Gewaltaktionen schwedischer und protestantischer, jedenfalls „unserer“ Soldaten brachten die nahezu permanente Gewalt des „offenen Kriegs“[43] ins Land.
„Es ist gar kein Glück mehr auf unsrer Seiten, ratio, denn es ist kein pietas et respectus honesti mehr bey den Unsrigen. Morden, Rauben, Stehlen, Nehmen, Schenden, Huhren, Buben etc., das sind unserer Soldaten ritterlichste Thaten und Tugenden“.[44]
„Es sind theils unsere Kontribution Schlucker nicht ein Haar besser als der Feind.“[45]
Happes religiöse Zuversicht, in diesem Krieg auf der richtigen Seite zu sein, war jedenfalls seit dieser Zeit dahin. Entsprechend kam es zum Verlust seines Vertrauens in Gottes gerechte „vindicta divina“[46] nach der in den ersten Jahren des Krieges noch von ihm ausgesprochenen selbstgewissen Devise „Justus est Dominus et justa judicia ejus“ (1623).[47] Erschien ihm 1631 die Übergabe Erfurts an die Schweden und ihr Einzug in die Stadt noch als eine glückliche und „sehr große notabilis mutatio fortunae“[48], so nannte er im Rückblick auf das Jahr 1636 unter der Überschrift „notabilia praecipua cruenti“[49] das grausame Handeln der Schweden in Thüringen an vorderster Stelle. Der schwedische Sieg über die Kaiserlichen in der Schlacht bei Wittstock im gleichen Jahr (am 4.10.1636) wurde – ganz im Unterschied zur Schlacht bei Lützen – nur noch äußerst nüchtern und knapp erwähnt.[50]
Es waren die Erfahrungen naher Gewalt: etwa des Überfalls auf das Schloss Ebeleben, der Ausplünderung seines „Gnädigen Herrn“ des Grafen in seinem (Happes) Beisein und dessen Entblößung buchstäblich bis aufs Hemd, der mehrfachen Zerstörung seiner eigenen Häuser, der Beraubung und schweren Verletzung seines ältesten Sohnes auf der Flucht, an deren traumatischen Folgen dieser später starb, des Überfalls und der Fast-Vergewaltigung seiner eigenen Tochter auf der Flucht am gleichen Tag, die Erfahrung der Brutalisierung und gleichzeitigen Verfeinerung militärischer Gewalttechniken bis hin zur Folterpraxis des „Schwedischen Trunks“ oder des Einsatzes von Spürhunden zum Auffinden versteckter Habseligkeiten in der Kirche. Solche Erfahrungen naher Gewalt, die er, wenn zumeist nicht an der eigenen Person, so doch in nächstem persönlichem Umfeld machte, ließen ihm nicht nur seinen Ort Sondershausen als „Schindershausen“erscheinen, sondern die gesamte ihn umgebende „Welt“.
Es überrascht nicht, dass solche Gewalterfahrungen „aus der Nähe“ dem Verfasser des Chronicon Thuringiae Angst und Schrecken einjagten, ja an einem ersten Gipfelpunkt, dem 2. Adventssonntag des Jahres 1634 zur Folge hatten, dass er, nachdem es „also gleichsam Unglück von allen Orthen geschneyet“[51], angstvoll und zugleich vorsichtig das Ende der Welt für möglich hielt. „Das sind ja gewiss Zeichen, dass unsere Erlösung durch die Zukunft Jesu Christi nahe sey.“[52] Hier scheint sich in Happes Angstvision geradezu ein kollektives Empfinden zu verdichten, insofern schon einige Tage vorher im 4 km von Ebeleben entfernten Nachbarort Schernberg angesichts eines Feuerzeichens am nächtlichen Himmel und des Läutens der Sturmglocke durch den Lehrer „alles Volck in großen Zittern und Zagen anders nicht gemeynet, als dass der Jüngste Tag kommen würde“.[53]
Was als paradox und überraschend, aber nicht gänzlich unerklärlich erscheint, sind die längerfristigen Folgen und Veränderungen, die solche Gewaltwahrnehmung aus der Nähe beim Autor der Chronik selbst in Gang setzten. Sie führten zu einer, in den Jahren nach 1634, besonders im zweiten Teil der Chronik nachweisbaren, deutlich verminderten „religiösen Lesart“ der Kriegs- und Gewaltereignisse und zu einem insgesamt sehr viel nüchterneren Blick auf diese. Kamen Happe bekannt gewordene Gewalttäter in den späteren Jahren des Krieges um, so wurde dies von ihm jetzt nicht mehr als Ergebnis göttlicher Gerechtigkeit und Strafe bezeichnet wie in den Anfangsjahren des Krieges, sondern nur noch nüchtern als „verdienter Lohn“.[54] Sie führten aber auch, was bei einer Person mit einer solch ausgeprägten protestantisch-ethischen Berufsauffassung, wie sie für Happe eigentümlich war, nicht gänzlich überraschend ist, dazu, dass die extremen Kriegserfahrungen vor Ort eine Vielzahl von rationalen Bewältigungsimpulsen auslösten. Die Erfahrungen von Leid, Not und fast täglichen Erpressungen durch menschliche „Wölfe“ führten bei der Amtsperson Happe – wie in seiner Chronik ablesbar ist – inmitten des „offenen Krieges“ (Happe) zur Konzentration und Steigerung seiner Anstrengungen als Amtsperson. Ziel war, die tägliche Not durch intensivere Kontrolle und „Verwaltung“ – wie er es jetzt nannte – der ihm unterstellten anderen „Verwalter“ wenn nicht zu lindern, so doch durch eine Verbesserung der Ordnung beherrschbar zu machen. Dieses Unterkapitel aus der Formierung neuzeitlicher Staatlichkeit durch ihre Amtspersonen im Kriege gehört zur ungeschriebenen Geschichte der langfristigen Veränderungen, welche durch die Verschiebungen der „Wahrnehmungshorizonte der Gewalt“ im Dreißigjährigen Krieg hervorgebracht wurden.
Das Koordinatensystem von Selbst, Gewalt und Raum, das zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges für Happe im Zeichen göttlicher Providenz noch wohlgeordnet schien, verschob und relativierte sich in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Kriegsgewalt aus der Nähe. Dies führte zu einer veränderten Selbst-Verortung der Person. Sie löste sich teilweise aus der Einordnung in die göttlich providentielle Ordnung und deren Raumbezüge (ohne freilich das protestantische Gottvertrauen zu verlieren) und unternahm vermehrte Anstrengungen, ihr Selbst eigenständig zu verorten und im „struggle for stability“[55], von dem die Zeit geprägt war, durch Leistungen im Dienste von Amt und Staat zur Geltung zu bringen.
[1] Volkmar Happe, Chronicon Thuringiae T. II Bl. 354v.
[2] Nachforschungen des Verfassers in den Akten der Kanzlei Sondershausen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (im Thüringischen Staatsarchiv Rudolstadt, Bestand Kanzlei Sonderhausen) führten zum Auffinden eines reichen schriftlichen Niederschlags von Happes Tätigkeit als Amtsschösser und Hofrat in den Jahren des Krieges bis zum Jahr 1648 (in dem die schriftliche Überlieferung zu Happe aufhört). Anhand der von Happe verfassten und mit seiner Unterschrift und dem Kürzel mpp (manu propria) als Beglaubigungszeichen signierten Briefe war auch die Identifizierung von Happes Handschrift und die Feststellung ihrer Nicht-Identität mit der erhaltenen Handschrift des Chronicon möglich. Der Happe als „Autor“ zugeschriebene Satz der Randbemerkung konnte bisher jedoch nicht in einem anderen Schriftstück identifiziert werden. Die zweifelsfreie Datierung der überlieferten Handschrift des Chroniktextes auf die Jahre zwischen 1703 und 1733 wurde durch eine von Andrea Lothe am Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, Papierhistorische Sammlungen, durchgeführte Wasserzeichenbestimmung des in der Handschrift benutzten Papiers möglich, siehe hierzu die Analyse der Handschrift durch Joachim Ott, Zur Text- und Manuskriptgestalt von Volkmar Happes Chronicon Thuringiae
[3] Hierzu Willy Flach, Rudolstädter Archivare des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die Mitteldeutsche Heimat 5/3. 1934 S. 336-344, hier 340 ff.
[4] Hermann Gresky, Volkmar Happe, der unbekannte Chronist von Nordthüringen und sein Werk, in: Das Thüringer Fähnlein. Monatshefte für die mitteldeutsche Heimat 5/12. 1936 S. 583-585; Die Happesche Chronik als genealogische Quelle, in: Mitteldeutsche Familienkunde 27/8/2. 1986 S. 257-281; häufig benutzt und erwähnt wurde die Happesche Chronik auch von Karl Köhler, Beiträge zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in Nordthüringen. Kriegsschicksale der gräflichen Unterherrschaft Schwarzburg-Sonderhausen und ihrer Randgebiete 1630-1632 unter besonderer Berücksichtigung der Truppenbewegungen (Mitteilungen des Vereins für Deutsche Geschichts- und Altertumskunde in Sondershausen 9). Sondershausen 1937. Köhler, der Lehrer in Bliederstedt bei Sondershausen war, erarbeitete in den Jahren zwischen 1968 und 1970 auch ein erstes, allerdings sehr fehlerhaftes Typoskript des Chronicon, das im Stadtarchiv Sondershausen deponiert ist und von diesem 1993 als Vervielfältigung in kleiner Stückzahl unter dem Titel „Chronica Thuringia“ veröffentlicht wurde.
[5] Den Beweis nicht nur für die Kenntnis, sondern die intime Vertrautheit Ruhes mit der Happeschen „Chronik“ liefert sein unpubliziertes handschriftliches Werk „Topologii Schwarzburgici“ vol. 1: Sive Sondershausinum, überliefert in den Akten des Geheimen Ratskollegiums Rudolstadt, ThStA, Staatsarchiv Sondershausen 5-33-2230, 217. Dieser Band führt insofern auf Happes Spuren, als in seiner nach Orten gegliederten historischen Topologie die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges einen Schwerpunkt der Darstellung ausmachen, in der immer wieder – ohne Ausweis eines Zitats oder namentliche Bezeichnung des Autors, freilich zuweilen mit einem H hinter der betreffenden Passage – wörtliche Zitate aus Happes Chronik eingearbeitet sind. Besonders trifft dies für die Behandlung des Ortes Sondershausen in der zweiten Hälfte des Bandes zu. So stimmt z.B. die Darstellung der Ereignisse des 23. April 1640 in Sondershausen fast wortwörtlich mit derjenigen in der Happeschen Chronik überein: „Den 23. April ist aus Furcht für denen neu erscheinenden Schweden unter dem General Königsmarck fast die gantze Bürgerschaft aus Greußen, auch alle Menschen aus dem Ambte Weissensee, von Straußfurt, Schilfa, Gangloffsömmern,von Lutz-Sömmern, Amt Clingen und anderen umliegenden Orten viel tausend Menschen in größtem Jammer anhero nach Sondershausen geflohen kommen […] eodem die ist ein Knecht begraben worden, welchen die Soldaten gejaget, dass er ueber eine Mauern gesprungen und sich zu Tode gefallen… den 26 April ein Jubilate uns allhier zu Eiulate worden“. Vgl. hiermit Happe, Chronicon Thuringiae T. II Bl. 311v, Bl. 312r, Bl. 313v, Bl. 314r.
[6] Der chronologische Teil der Happeschen Chronik schließt zwar in T. II mit dem Ende des Jahres 1641 ab, der biographische Einleitungsteil der Chronik, der zuletzt verfasst worden sein dürfte, reicht dagegen bis zu Happes Ernennung zum Kanzler und Direktor des Konsistoriums in Sondershausen zu Beginn des Jahres 1643.
[7] Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 1r-26v.
[8] Ebd. T. I Bl. 3r.
[9] Ebd. T. I Bl. 14v und Bl. 15r.
[10] Ebd. T. I Bl. 10r. Hervorhebungen von mir, H.M.
[11] Ebd. T. I Bl. 11v. Hervorhebungen von mir, H.M.
[12] Ebd. T. I Bl. 26r und Bl. 26v. Hervorhebung von mir, H.M.
[13] So Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 10r.
[14] Zum ursprünglich von Lucien Febvre geprägten und von Robert Mandrou übernommenen und weiterentwickelten Begriff der „outillages mentales“ vgl. Robert Mandrou, Introduction a la France moderne 1500-1640. Essai de psychologie historique (1961). Neue Ausgabe mit einem Vorwort von Pierre Goubert und Nachworten von Monique Cotteret, Philippe Joutard und Jean Lecuir. Paris 1998 Kap. VI: L’homme psychique. Outillage mental et attitudes fondamentales (S. 91 ff.).
[15] Der Begriff wird hier verwendet im Anschluss an Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000 S. 27-77.
[16] Mandrou, Introduction a la France moderne (wie Anm. 14) S. 96. Vgl. hierzu auch meine Bemerkungen zu Robert Mandrou als außergewöhnlicher Figur der Annales-Schule in: Historische Anthropologie auf dem Weg zur Selbstreflexion, in: Historische Zeitschrift 283. 2006 S. 123-130, hier 124 f.
[17] Der Begriff der „mental map“ wird hier i.S. seiner Prägung in der Kognitionspsychologie und Wahrnehmungsgeographie verstanden. Er bezeichnet die mentalen Repräsentationen eines geographischen Raums sowie die subjektiven, durch Vorstellungsbilder gesteuerten Wahrnehmungsmuster von Raumordnungen, die zugleich bestimmte Handlungsräume darstellen und vorstrukturieren. Vgl. hierzu Roger Downs/David Shea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen. New York 1982, und den Überblicksaufsatz von Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps, Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28. 2002 S. 483-514.
[18] Die im Folgenden zugrunde gelegten historischen Karten wurden im Zusammenhang der gemeinsamen Arbeit an der digitalen Edition der Happeschen Chronik von Norbert Winnige erarbeitet, dem ich an dieser Stelle für seine Hilfe, Kooperationsbereitschaft und große Expertise auf dem Gebiet der historischen Fachinformatik und Kartographie sehr herzlich danken möchte.
[19] Z.B. Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 70v, Bl. 133v, Bl. 183r, Bl. 195v, Bl. 203r, Bl. 206v, Bl. 215v, Bl. 322v.
[20] Ebd. T. I Bl. 34v, Bl. 35r, Bl. 73r, Bl. 87v, Bl. 100r, Bl. 133v, Bl. 221v, Bl. 252v (“Herrschaft Schwartzburg Sondershäusischen Theils”).
[21] Ebd. T. I Bl. 73v.
[22] Ebd. T. I Bl. 75v.
[23] Ebd. T. I Bl. 70v.
[24] Ebd. T. I Bl. 73v.
[25] Ebd. T. I Bl. 33r (1623).
[26] Ebd. T. I Bl. 32v.
[27] Ebd. T. I Bl. 40r, Bl. 40v.
[28] Ebd. T. I Bl. 40v.
[29] Ebd. T. I Bl. 41r.
[30] Ebd. T. I Bl. 111v.
[31] Siehe zur Rolle Magdeburgs als heroischem Ort in der lutherisch-protestantischen Vorstellungswelt des 16. und 17. Jahrhunderts Hans Medick, Historisches Ereignis und zeitgenössische Erfahrung. Die Eroberung und Zerstörung Magdeburgs 1631, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Hg. Benigna von Krusenstjern/Hans Medick (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 148). Göttingen 22001 S. 277-408, hier 378.
[32] Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 173r.
[33] Ebd. T. I Bl. 290v.
[34] Ebd. T. I Bl. 292r.
[35] Ebd. T. I Bl. 292v.
[37] Ebd. T. I Bl. 296r. Hervorhebung von mir, H.M.
[38] (Anon.,) Warhaffte unnd eygentliche Relation, von der Blutigen Schlacht, zwischen der Königl. Mayestät etc. zu Schweden, unnd der Kayserlichen Armee den 5. und 5. Novemb deß 1632. Jahrs bey Lützen zwo Meil wegs von Leipzig vorgangen und geschehen: aus Erfurt vom 12 (22) Novembris. Abgedruckt in: Gedruckte Relationen über die Schlacht bei Lützen 1632 (Materialien zur Deutschen Geschichte Nr. 1). Halle 1880 S. 17-23. Hermann Diemer, Untersuchungen über die Schlacht bei Lützen (16. November 1632). Phil. Diss. Marburg 1890 S. 18 ff., identifiziert als Autor dieser sehr bald nach der Schlacht weit verbreiteten Flugschrift den Sekretär der Feldkanzlei Gustav Adolfs, Heinrich Schwallenberg, einen Augenzeugen und Teilnehmer der Schlacht, der die Schwedische Kanzlei nach der Schlacht zurück nach Erfurt überführte.
[39] Vgl. etwa die Darstellung und Bewertung bei Gerhard Schormann, Der Dreißigjährige Krieg 1618-1648, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte Bd. 10: Konfessionelles Zeitalter. Hg. Maximilian Lanzinner/ Wolfgang Reinhard. Stuttgart 102001 S. 207-276, hier 254.
[40] Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 300r.
[41] Warhaffte unnd eygentliche Relation S. 21.
[42] Happe, Chronicon Thuringiae T. I Bl. 338r.
[43] Ebd. T. II Bl. 68v
[44] Ebd. T. I Bl. 341r (November 1634). Hervorhebungen von mir, H.M.
[45] Ebd. T. I Bl. 344r (November 1634). Hervorhebung von mir, H.M.
[46] Ebd. T. I Bl. 31r.
[47] Ebd. T. I Bl. 42r.
[48] Ebd. T. I Bl. 276v.
[50] Ebd. T. II Bl. 45r.
[51] Ebd. T. I Bl. 349r.
[52] Ebd. T. I Bl. 349r.
[53] Ebd. T. I Bl. 349v.
[54] Siehe etwa ebd. T. II Bl. 6r, Bl. 192v, Bl. 331v, Bl. 407r.
[55] Ich beziehe mich hier auf den Titel einer im deutschen Sprachbereich kaum wahrgenommen Studie von Theodore K. Rabb, The Struggle for Stability in Early Modern Europe. New York 1975, die einen der wichtigsten Beiträge zur internationalen Historikerdiskussion um die sog. „General Crisis of the Seventeenth Century“ und deren Auswirkungen darstellt.